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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Fragen zugewandt, daß sie für auswärtige Politik keinen Sinn haben
konnte; der Streit darüber, ob die Generalgouverneure von Kiew und
Wilna es mit der Russification der ehemals polnischen Länder wirklich auf¬
richtig meinten, ob die Ernennung eines Polen zum Vicegouverneuc einer
der "Weichselprovinzen" nicht auf staatsgefährliche Umtriebe schließen lasse,
und ob es nicht am zweckmäßigsten sei, dem deutschen Element in Liv-, Est-
und Curland plötzlich und mit einem Male den Garaus zu machen, schienen
alle übrigen Interessen zu verdrängen. Das, wenigstens für Westeuropa un¬
erwartete Eintreffen einer Bucharischen Gesandtschaft in Petersburg dürfte eine
Reihe ganz anderer Fragen aufs Tapet bringen, da diese Gesandtschaft nicht nur
die Aufgabe hat, den Kaiser von den freundlichen Gesinnungen des Emirs
zu unterrichten, sondern zugleich bestimmt ist, Rußlands Hilfe gegen Schig-Ali
von Afghanistan, den Schützling und Bundesgenossen Englands, zu erbitten.
Daß dieses der Hauptzweck der Gesandtschaft ist, wird von den Organen
der russischen Presse ebenso rückhaltslos eingestanden, wie daß die Gesandt¬
schaft sich schon vor Monaten bei dem Generalgouvemeur,von Orenburg ge¬
meldet und die Erlaubniß zur Reise und zur Anbringung ihres Gesuchs ein¬
geholt hatte.

Englands öffentliche Meinung hat sich, von ein paar vorläufigen Artikeln
der Times abgesehen, noch nicht zur Sache geäußert. Wenn dieselbe auch
zunächst keine directen Consequenzen haben wird, so kann doch nicht aus¬
bleiben, daß die friedlichen Versicherungen, welche Mr. Gladstone dem Par¬
lament vor einigen Wochen machte und die in London ebenso bereitwillig
aufgenommen wurden wie in Petersburg und Moskau, -- daß diese einen
heftigen Stoß erfahren und daß der langverhaltene Unmuth der englischen
Nation gegen das Anwachsen der russischen Macht einmal wieder deutlich
hervorbricht. Jenes Testament Fuad Paschas (in Rußland zweifelt man an
seiner Echtheit, indem man den Grafen Beust als seinen Versasser bezeichnet),
dessen wir oben Erwähnung thaten und das im östlichen Europa sehr viel
mehr beachtet worden ist als bei uns, machte es den britischen Staatsmän¬
nern in besonders nachdrücklicher Weise zum Vorwurf, daß sie sich über die
Bedeutung Mittelasiens für die orientalische Frage hartnäckig täuschten. Von
diesem Vorwurf werden Ihrer Majestät Minister nach dem, was jetzt vor¬
liegt, wohl auch in England nicht frei gesprochen werden. Russischer Seits
wurde übrigens vor Kurzem und zwar von sehr wohlunterrichteter Seite
Positiv und im Ton des Vorwurfs behauptet, daß die Vorschläge zur Neu-
tralisirung Afghanistans zuerst in Petersburg aufgetaucht und von der russi¬
schen Regierung empfohlen worden seien. Die Unklarheit, welche über der
ganzen Sache zur Zeit noch liegt, wird wahrscheinlich schon in den nächsten
Wochen gelichtet werden. Mag die Antwort, welche die mittelasiatischen


Fragen zugewandt, daß sie für auswärtige Politik keinen Sinn haben
konnte; der Streit darüber, ob die Generalgouverneure von Kiew und
Wilna es mit der Russification der ehemals polnischen Länder wirklich auf¬
richtig meinten, ob die Ernennung eines Polen zum Vicegouverneuc einer
der „Weichselprovinzen" nicht auf staatsgefährliche Umtriebe schließen lasse,
und ob es nicht am zweckmäßigsten sei, dem deutschen Element in Liv-, Est-
und Curland plötzlich und mit einem Male den Garaus zu machen, schienen
alle übrigen Interessen zu verdrängen. Das, wenigstens für Westeuropa un¬
erwartete Eintreffen einer Bucharischen Gesandtschaft in Petersburg dürfte eine
Reihe ganz anderer Fragen aufs Tapet bringen, da diese Gesandtschaft nicht nur
die Aufgabe hat, den Kaiser von den freundlichen Gesinnungen des Emirs
zu unterrichten, sondern zugleich bestimmt ist, Rußlands Hilfe gegen Schig-Ali
von Afghanistan, den Schützling und Bundesgenossen Englands, zu erbitten.
Daß dieses der Hauptzweck der Gesandtschaft ist, wird von den Organen
der russischen Presse ebenso rückhaltslos eingestanden, wie daß die Gesandt¬
schaft sich schon vor Monaten bei dem Generalgouvemeur,von Orenburg ge¬
meldet und die Erlaubniß zur Reise und zur Anbringung ihres Gesuchs ein¬
geholt hatte.

Englands öffentliche Meinung hat sich, von ein paar vorläufigen Artikeln
der Times abgesehen, noch nicht zur Sache geäußert. Wenn dieselbe auch
zunächst keine directen Consequenzen haben wird, so kann doch nicht aus¬
bleiben, daß die friedlichen Versicherungen, welche Mr. Gladstone dem Par¬
lament vor einigen Wochen machte und die in London ebenso bereitwillig
aufgenommen wurden wie in Petersburg und Moskau, — daß diese einen
heftigen Stoß erfahren und daß der langverhaltene Unmuth der englischen
Nation gegen das Anwachsen der russischen Macht einmal wieder deutlich
hervorbricht. Jenes Testament Fuad Paschas (in Rußland zweifelt man an
seiner Echtheit, indem man den Grafen Beust als seinen Versasser bezeichnet),
dessen wir oben Erwähnung thaten und das im östlichen Europa sehr viel
mehr beachtet worden ist als bei uns, machte es den britischen Staatsmän¬
nern in besonders nachdrücklicher Weise zum Vorwurf, daß sie sich über die
Bedeutung Mittelasiens für die orientalische Frage hartnäckig täuschten. Von
diesem Vorwurf werden Ihrer Majestät Minister nach dem, was jetzt vor¬
liegt, wohl auch in England nicht frei gesprochen werden. Russischer Seits
wurde übrigens vor Kurzem und zwar von sehr wohlunterrichteter Seite
Positiv und im Ton des Vorwurfs behauptet, daß die Vorschläge zur Neu-
tralisirung Afghanistans zuerst in Petersburg aufgetaucht und von der russi¬
schen Regierung empfohlen worden seien. Die Unklarheit, welche über der
ganzen Sache zur Zeit noch liegt, wird wahrscheinlich schon in den nächsten
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/199>, abgerufen am 22.07.2024.