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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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barer Hüter ihres nationalen Wachsthums. Bei ihren innern Fehden bildete
es um die Kämpfer einen Zauberkreis, den keine fremde Einmischung unge¬
beten durchbrechen konnte. Wenn England mit seinen Jsländern, Wallisern
und Schotten im Herzen Europas läge, wäre es heute schon ein "Vereinigtes
Königreich?" -- Die insulare Lage ist ein Vortheil, den der Engländer eben
so ost über- wie unterschätzt. Er liebt es, die Gunst der Natur sich als Ver¬
dienst anzurechnen. Er ist im Stande, von seinen besten Bundesgenossen auf
dem Festlande übernatürliche Kunststücke zu verlangen und sie mit Hohn zu
überschütten, weil sie Dies und Jenes nicht machen wie er, weil sie die "abscheuliche
Conscription", ja die allgemeine Wehrpflicht dulden. Er hält nur ein paar
geworbene Soldaten und hat doch nie feindliche Einquartirung in London
gehabt! Seinen Salzwasfergraben verliert er im Augenblick der Ruhmredig¬
keit aus den Augen. Zu andern Zeiten pocht er aus seine Kreidenküste, und
wähnt über, anstatt in der Welt zu stehen. Er vergißt, daß die Insel durch
zahllose Lebensfaden an die Enden der Erde gebunden ist, und daß ein
Feind, ohne über den Canal zu schreiten, seine Gliedmaßen schädigen, ihn
vielleicht sogar ins Herz treffen kann. Das Gefühl vergleichsweiser Sicher¬
heit erzieht einen oft ungesunden und haltlosen Dünkel. Derselbe stolze Brite,
der sein Leben lang zu fragen pflegt: "Kann etwas Gutes vom Auslande
kommen, kann der Baum der wahren Erkenntniß anderswo als auf unserer
Insel wachsen?" hat Momente, wo er mit Schrecken die Augen aufreißt und
ruft: "Da sind uns die koreigners schon wieder drei Meilen voraus!" Eine
Kleinigkeit jedoch genügt, sein vornehmes Selbstgefühl wieder herzustellen.
Die blinde Verachtung des Auslandes ist chronisch, die Bewunderung schnell
vorübergehend. Wenn es unglaublich scheint, daß auch die Bildner der
Nation, daß englische Staatsphilosophen, Volks- und Parlamentsredner die
Gewohnheit haben, sich Stelzen anzuschnallen, obgleich ihre Statur anständig
genug ist, der lese 20, 30 alte Jahrgänge der Times oder einer andern Lon¬
doner Zeitung. Ein einziger Jahrgang vor 1866 wird ihm auch genug Un¬
glaubliches beweisen.

Der Patriot mit dem engen Gesichtskreis bei sonst scharfem Blick ge¬
deiht nicht blos in den untern Regionen der englischen Gesellschaft. Denn
woher kommt es, daß das im Romanlesen unersättliche Publicum des Mittel¬
standes so äußerst selten einem übersetzten Buche Geschmack abgewinnt? Es
liegt nicht lediglich am Reichthum seiner eigenen Literatur, sondern Geschichten,
die nicht auf englischem, nordamerikanischen oder britisch-colonialem Boden
spielen, bleiben ihm unverständlich und ungenießbar. Der Engländer, dem
das fremde Werk mundet, liest es in der Ursprache und hat im Auslande
schöne Tage verlebt. Nach manchen Richtungen wächst sein Geist über die
heimische Atmosphäre hinaus, aber jede Faser auch in ihm -- und wir müssen


barer Hüter ihres nationalen Wachsthums. Bei ihren innern Fehden bildete
es um die Kämpfer einen Zauberkreis, den keine fremde Einmischung unge¬
beten durchbrechen konnte. Wenn England mit seinen Jsländern, Wallisern
und Schotten im Herzen Europas läge, wäre es heute schon ein „Vereinigtes
Königreich?" — Die insulare Lage ist ein Vortheil, den der Engländer eben
so ost über- wie unterschätzt. Er liebt es, die Gunst der Natur sich als Ver¬
dienst anzurechnen. Er ist im Stande, von seinen besten Bundesgenossen auf
dem Festlande übernatürliche Kunststücke zu verlangen und sie mit Hohn zu
überschütten, weil sie Dies und Jenes nicht machen wie er, weil sie die „abscheuliche
Conscription", ja die allgemeine Wehrpflicht dulden. Er hält nur ein paar
geworbene Soldaten und hat doch nie feindliche Einquartirung in London
gehabt! Seinen Salzwasfergraben verliert er im Augenblick der Ruhmredig¬
keit aus den Augen. Zu andern Zeiten pocht er aus seine Kreidenküste, und
wähnt über, anstatt in der Welt zu stehen. Er vergißt, daß die Insel durch
zahllose Lebensfaden an die Enden der Erde gebunden ist, und daß ein
Feind, ohne über den Canal zu schreiten, seine Gliedmaßen schädigen, ihn
vielleicht sogar ins Herz treffen kann. Das Gefühl vergleichsweiser Sicher¬
heit erzieht einen oft ungesunden und haltlosen Dünkel. Derselbe stolze Brite,
der sein Leben lang zu fragen pflegt: „Kann etwas Gutes vom Auslande
kommen, kann der Baum der wahren Erkenntniß anderswo als auf unserer
Insel wachsen?" hat Momente, wo er mit Schrecken die Augen aufreißt und
ruft: „Da sind uns die koreigners schon wieder drei Meilen voraus!" Eine
Kleinigkeit jedoch genügt, sein vornehmes Selbstgefühl wieder herzustellen.
Die blinde Verachtung des Auslandes ist chronisch, die Bewunderung schnell
vorübergehend. Wenn es unglaublich scheint, daß auch die Bildner der
Nation, daß englische Staatsphilosophen, Volks- und Parlamentsredner die
Gewohnheit haben, sich Stelzen anzuschnallen, obgleich ihre Statur anständig
genug ist, der lese 20, 30 alte Jahrgänge der Times oder einer andern Lon¬
doner Zeitung. Ein einziger Jahrgang vor 1866 wird ihm auch genug Un¬
glaubliches beweisen.

Der Patriot mit dem engen Gesichtskreis bei sonst scharfem Blick ge¬
deiht nicht blos in den untern Regionen der englischen Gesellschaft. Denn
woher kommt es, daß das im Romanlesen unersättliche Publicum des Mittel¬
standes so äußerst selten einem übersetzten Buche Geschmack abgewinnt? Es
liegt nicht lediglich am Reichthum seiner eigenen Literatur, sondern Geschichten,
die nicht auf englischem, nordamerikanischen oder britisch-colonialem Boden
spielen, bleiben ihm unverständlich und ungenießbar. Der Engländer, dem
das fremde Werk mundet, liest es in der Ursprache und hat im Auslande
schöne Tage verlebt. Nach manchen Richtungen wächst sein Geist über die
heimische Atmosphäre hinaus, aber jede Faser auch in ihm — und wir müssen


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[0158] barer Hüter ihres nationalen Wachsthums. Bei ihren innern Fehden bildete es um die Kämpfer einen Zauberkreis, den keine fremde Einmischung unge¬ beten durchbrechen konnte. Wenn England mit seinen Jsländern, Wallisern und Schotten im Herzen Europas läge, wäre es heute schon ein „Vereinigtes Königreich?" — Die insulare Lage ist ein Vortheil, den der Engländer eben so ost über- wie unterschätzt. Er liebt es, die Gunst der Natur sich als Ver¬ dienst anzurechnen. Er ist im Stande, von seinen besten Bundesgenossen auf dem Festlande übernatürliche Kunststücke zu verlangen und sie mit Hohn zu überschütten, weil sie Dies und Jenes nicht machen wie er, weil sie die „abscheuliche Conscription", ja die allgemeine Wehrpflicht dulden. Er hält nur ein paar geworbene Soldaten und hat doch nie feindliche Einquartirung in London gehabt! Seinen Salzwasfergraben verliert er im Augenblick der Ruhmredig¬ keit aus den Augen. Zu andern Zeiten pocht er aus seine Kreidenküste, und wähnt über, anstatt in der Welt zu stehen. Er vergißt, daß die Insel durch zahllose Lebensfaden an die Enden der Erde gebunden ist, und daß ein Feind, ohne über den Canal zu schreiten, seine Gliedmaßen schädigen, ihn vielleicht sogar ins Herz treffen kann. Das Gefühl vergleichsweiser Sicher¬ heit erzieht einen oft ungesunden und haltlosen Dünkel. Derselbe stolze Brite, der sein Leben lang zu fragen pflegt: „Kann etwas Gutes vom Auslande kommen, kann der Baum der wahren Erkenntniß anderswo als auf unserer Insel wachsen?" hat Momente, wo er mit Schrecken die Augen aufreißt und ruft: „Da sind uns die koreigners schon wieder drei Meilen voraus!" Eine Kleinigkeit jedoch genügt, sein vornehmes Selbstgefühl wieder herzustellen. Die blinde Verachtung des Auslandes ist chronisch, die Bewunderung schnell vorübergehend. Wenn es unglaublich scheint, daß auch die Bildner der Nation, daß englische Staatsphilosophen, Volks- und Parlamentsredner die Gewohnheit haben, sich Stelzen anzuschnallen, obgleich ihre Statur anständig genug ist, der lese 20, 30 alte Jahrgänge der Times oder einer andern Lon¬ doner Zeitung. Ein einziger Jahrgang vor 1866 wird ihm auch genug Un¬ glaubliches beweisen. Der Patriot mit dem engen Gesichtskreis bei sonst scharfem Blick ge¬ deiht nicht blos in den untern Regionen der englischen Gesellschaft. Denn woher kommt es, daß das im Romanlesen unersättliche Publicum des Mittel¬ standes so äußerst selten einem übersetzten Buche Geschmack abgewinnt? Es liegt nicht lediglich am Reichthum seiner eigenen Literatur, sondern Geschichten, die nicht auf englischem, nordamerikanischen oder britisch-colonialem Boden spielen, bleiben ihm unverständlich und ungenießbar. Der Engländer, dem das fremde Werk mundet, liest es in der Ursprache und hat im Auslande schöne Tage verlebt. Nach manchen Richtungen wächst sein Geist über die heimische Atmosphäre hinaus, aber jede Faser auch in ihm — und wir müssen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/158>, abgerufen am 22.07.2024.