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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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wurde manches furchtbare Nachtstück gemalt. Lange Episteln an den Heraus¬
geber schilderten die Anarchie, die in Folge einer feindlichen Landung in
London ausbrechen müßte; den allseitigen Sturm auf die Bank um baar
Geld; die massenhafte Flucht aller Wohlhabenderen nach dem Norden; die
Volksbewaffnung; den schwierigen Versuch, eine Drei-Millionenstadt zu ver-
barricadiren und mit Lebensmitteln zu versehen; die Wasser- und Hungers-
noth; den Aufstand der Verbrecherklassen, Mord, Brand, Plünderung u. f. w.
Auch in gebildeten Kreisen wurde gezittert, und ein Mitglied des Oberhauses
that den düstern Ausspruch: "Wie, wenn der Feind unsere Canalflotte um¬
geht! Eine trübe Sommernacht und Englands Sonne kann auf immer
untergegangen sein."

L. Napoleon unterließ die Landung, -- nicht aus Rücksicht auf die Ge¬
fahren der Seekrankheit, auch nicht aus Respect vor der damaligen englischen
Landmacht, sondern entweder, weil noch keine Maschine erfunden ist, um eine
Zranäö g,rin6ö mit Einem Ruck auszuschiffen, oder weil er andere Sorgen
hatte. Als aus der Invasion eine Allianz gegen Rußland wurde, schlug die
frühere Gallophobie sogar in Gallomanie um. Doch schreiben sich von da¬
mals die langen Rechnungen her, die das englische Parlament jährlich für
Armee und Flotte bezahlt. Eine zweite Jnvasionspanik brach Anno 1858
aus. Sie grassirte kürzere Zeit als die erste, trieb aber phantastische Blasen.
So machten die Patrioten des Advertiser wiederholt den Vorschlag, an der
Küste eine makedonische Phalanx von 100,000 muskelstarken Momen,
Brauersknechten, Kutschern, Preisboxern und Wilddieben aufzustellen, die, mit
25 F. langen Lanzen bewaffnet, das größte Jnvasionsheer vom Strand ins
Wasser zurückstoßen würden. Anstatt der Phalanx bildeten sich die freiwil¬
ligen Schützencorps, deren Werth von Bedeutung ist. Die beleibtesten Fa¬
milienväter haben, seit sie am Samstag Nachmittag ein Bischen exerciren,
eine strammere Haltung und kleidsamere Tracht angenommen; aber auch in
gesundheitlicher Hinsicht war die Freiwilligenbewegung von den heilsamsten
Folgen. Napoleon III. ist noch immer nicht gelandet, und dafür -- sagt
der Cockney im tiefsten Ernst -- haben wir uns bei unsern Schützencorps
zu bedanken.

Was wäre England ohne seine insulare Lage? Zwar macht die Insel
allein noch nicht den Insulaner. Auch die Jrländer sind buchstäblich meer¬
umschlungen, und können weder sich selbst noch Andere regieren. Ehe die
Engländer zur Nation erstarkten, beherrschten sie das Meer nicht immer; an¬
statt ihr Schutz zu sein, brachte es dänische, normännische und afrikani¬
sche Piraten auf ihre Küste. Wenn im Staate etwas faul war, wie unter¬
Carl II., drangen Corsaren in den Canal. Doch waren dies kleine Störun¬
gen. Im Ganzen war das Meer seit Wilhelm dem Eroberer ein unschätz-


wurde manches furchtbare Nachtstück gemalt. Lange Episteln an den Heraus¬
geber schilderten die Anarchie, die in Folge einer feindlichen Landung in
London ausbrechen müßte; den allseitigen Sturm auf die Bank um baar
Geld; die massenhafte Flucht aller Wohlhabenderen nach dem Norden; die
Volksbewaffnung; den schwierigen Versuch, eine Drei-Millionenstadt zu ver-
barricadiren und mit Lebensmitteln zu versehen; die Wasser- und Hungers-
noth; den Aufstand der Verbrecherklassen, Mord, Brand, Plünderung u. f. w.
Auch in gebildeten Kreisen wurde gezittert, und ein Mitglied des Oberhauses
that den düstern Ausspruch: „Wie, wenn der Feind unsere Canalflotte um¬
geht! Eine trübe Sommernacht und Englands Sonne kann auf immer
untergegangen sein."

L. Napoleon unterließ die Landung, — nicht aus Rücksicht auf die Ge¬
fahren der Seekrankheit, auch nicht aus Respect vor der damaligen englischen
Landmacht, sondern entweder, weil noch keine Maschine erfunden ist, um eine
Zranäö g,rin6ö mit Einem Ruck auszuschiffen, oder weil er andere Sorgen
hatte. Als aus der Invasion eine Allianz gegen Rußland wurde, schlug die
frühere Gallophobie sogar in Gallomanie um. Doch schreiben sich von da¬
mals die langen Rechnungen her, die das englische Parlament jährlich für
Armee und Flotte bezahlt. Eine zweite Jnvasionspanik brach Anno 1858
aus. Sie grassirte kürzere Zeit als die erste, trieb aber phantastische Blasen.
So machten die Patrioten des Advertiser wiederholt den Vorschlag, an der
Küste eine makedonische Phalanx von 100,000 muskelstarken Momen,
Brauersknechten, Kutschern, Preisboxern und Wilddieben aufzustellen, die, mit
25 F. langen Lanzen bewaffnet, das größte Jnvasionsheer vom Strand ins
Wasser zurückstoßen würden. Anstatt der Phalanx bildeten sich die freiwil¬
ligen Schützencorps, deren Werth von Bedeutung ist. Die beleibtesten Fa¬
milienväter haben, seit sie am Samstag Nachmittag ein Bischen exerciren,
eine strammere Haltung und kleidsamere Tracht angenommen; aber auch in
gesundheitlicher Hinsicht war die Freiwilligenbewegung von den heilsamsten
Folgen. Napoleon III. ist noch immer nicht gelandet, und dafür — sagt
der Cockney im tiefsten Ernst — haben wir uns bei unsern Schützencorps
zu bedanken.

Was wäre England ohne seine insulare Lage? Zwar macht die Insel
allein noch nicht den Insulaner. Auch die Jrländer sind buchstäblich meer¬
umschlungen, und können weder sich selbst noch Andere regieren. Ehe die
Engländer zur Nation erstarkten, beherrschten sie das Meer nicht immer; an¬
statt ihr Schutz zu sein, brachte es dänische, normännische und afrikani¬
sche Piraten auf ihre Küste. Wenn im Staate etwas faul war, wie unter¬
Carl II., drangen Corsaren in den Canal. Doch waren dies kleine Störun¬
gen. Im Ganzen war das Meer seit Wilhelm dem Eroberer ein unschätz-


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[0157] wurde manches furchtbare Nachtstück gemalt. Lange Episteln an den Heraus¬ geber schilderten die Anarchie, die in Folge einer feindlichen Landung in London ausbrechen müßte; den allseitigen Sturm auf die Bank um baar Geld; die massenhafte Flucht aller Wohlhabenderen nach dem Norden; die Volksbewaffnung; den schwierigen Versuch, eine Drei-Millionenstadt zu ver- barricadiren und mit Lebensmitteln zu versehen; die Wasser- und Hungers- noth; den Aufstand der Verbrecherklassen, Mord, Brand, Plünderung u. f. w. Auch in gebildeten Kreisen wurde gezittert, und ein Mitglied des Oberhauses that den düstern Ausspruch: „Wie, wenn der Feind unsere Canalflotte um¬ geht! Eine trübe Sommernacht und Englands Sonne kann auf immer untergegangen sein." L. Napoleon unterließ die Landung, — nicht aus Rücksicht auf die Ge¬ fahren der Seekrankheit, auch nicht aus Respect vor der damaligen englischen Landmacht, sondern entweder, weil noch keine Maschine erfunden ist, um eine Zranäö g,rin6ö mit Einem Ruck auszuschiffen, oder weil er andere Sorgen hatte. Als aus der Invasion eine Allianz gegen Rußland wurde, schlug die frühere Gallophobie sogar in Gallomanie um. Doch schreiben sich von da¬ mals die langen Rechnungen her, die das englische Parlament jährlich für Armee und Flotte bezahlt. Eine zweite Jnvasionspanik brach Anno 1858 aus. Sie grassirte kürzere Zeit als die erste, trieb aber phantastische Blasen. So machten die Patrioten des Advertiser wiederholt den Vorschlag, an der Küste eine makedonische Phalanx von 100,000 muskelstarken Momen, Brauersknechten, Kutschern, Preisboxern und Wilddieben aufzustellen, die, mit 25 F. langen Lanzen bewaffnet, das größte Jnvasionsheer vom Strand ins Wasser zurückstoßen würden. Anstatt der Phalanx bildeten sich die freiwil¬ ligen Schützencorps, deren Werth von Bedeutung ist. Die beleibtesten Fa¬ milienväter haben, seit sie am Samstag Nachmittag ein Bischen exerciren, eine strammere Haltung und kleidsamere Tracht angenommen; aber auch in gesundheitlicher Hinsicht war die Freiwilligenbewegung von den heilsamsten Folgen. Napoleon III. ist noch immer nicht gelandet, und dafür — sagt der Cockney im tiefsten Ernst — haben wir uns bei unsern Schützencorps zu bedanken. Was wäre England ohne seine insulare Lage? Zwar macht die Insel allein noch nicht den Insulaner. Auch die Jrländer sind buchstäblich meer¬ umschlungen, und können weder sich selbst noch Andere regieren. Ehe die Engländer zur Nation erstarkten, beherrschten sie das Meer nicht immer; an¬ statt ihr Schutz zu sein, brachte es dänische, normännische und afrikani¬ sche Piraten auf ihre Küste. Wenn im Staate etwas faul war, wie unter¬ Carl II., drangen Corsaren in den Canal. Doch waren dies kleine Störun¬ gen. Im Ganzen war das Meer seit Wilhelm dem Eroberer ein unschätz-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/157>, abgerufen am 22.07.2024.