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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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die islamitischen Völker, auf der anderen die buddhistischen, welche die Ver¬
breitung der Märchen fast über die ganze Welt bewerkstelligt haben."

Ueber die Verschiedenheit der Märchen spricht sich Benfey im Anschluß
hieran so aus: "In Wirklichkeit reducirt sich die große Masse, insbesondere
der europäischen Märchen, auf eine keineswegs beträchtliche Anzahl von Grund¬
formen" -- Hahn hat seitdem in der That versucht, die Reduction aus ge¬
wisse Formeln vorzunehmen --, aus denen sie sich mit mehr oder weniger
Glück und Geschick durch theils volkliche, theils individuelle Thätigkeit ver¬
vielfältig haben. -- Aus der Literatur gingen die Märchen ins Volk über,
aus diesem, verwandelt, wieder in die Literatur, dann wieder ins Volk
u. f. w. und erreichen, insbesondere durch diese wechselseitige Thätigkeit natio¬
nalen und individuellen Geistes, jenen Charakter nationaler Wahrheit und
individueller Einheit, welcher nicht wenigen von ihnen einen so hohen poe¬
tischen Werth verleiht."

Diese Behauptungen der berühmten Orientalisten scheinen nun den An¬
schauungen unseres ersten Germanisten schnurstracks zu widersprechen. Und
doch ist dem nicht ganz so; wenigstens nicht in der Weise, wie es auf den
ersten Augenblick erscheint. Doch zunächst noch etwas Anderes. Benfey
selbst hat seine Ausführungen in einem Punkte seit dem Erscheinen seiner
Einleitung zu dem Pantschtatanlra modificirt und andere Orientalisten sind in
diesem Punkte noch weiter gegangen. Nachdem F. Liebrecht die buddhistische
Quelle zu dem griechischen Roman des 7. Jahrhunderts n. Ch., Barlaam
und Josaphat aufgefunden und nachgewiesen hatte, gab Benfey bereitwillig
zu, daß durch diesen Nachweis das Bestehen eines reicheren literarischen Ver¬
kehrs zwischen Indien und den Mittelmeerstaaten vor dem 10. Jahrhundert
unserer Aera im Allgemeinen als hinlänglich bewiesen anzunehmen sei, und Gilde¬
meister hat als das wohl älteste Beispiel von Uebertragung indischen No¬
vellenstoffs nach dem Westen, mit Recht auf die Erzählung vom bösen Dämon
(Raxasa) Asmodaios hingewiesen, die sich in dem apokryphen Bibelbuch
Tobie, das im ersten Jahrhundert vor Christus entstanden ist, findet.

Aber ganz abgesehen von dieser Modifikation, die Benfey selbst an sei¬
ner Theorie vorgenommen hat, ist dieselbe der Grimmschen Auffassung vom
Wesen und der Entstehung des Märchen nicht ganz so widersprechend, als
es scheint. Denn bezieht sich Benfey's Theorie auf die Entstehung der
Märchen? Keineswegs. Sie erstreckt sich nur auf die Verbreitung derselben
nach Europa, Centralasien u. s. w. von Indien aus. Ueber die Entstehung
der Märchen in Indien selbst gibt sie gar keinen Aufschluß. Noch viel we¬
niger beantwortet sie eine naheliegende Gegenfrage, wie es denn zu erklären
sein solle, daß, da, wie sich aus der ungemeinen Verbreitung der Fabeln
und Märchen ergebe, die Lust und Freude am Fabuliren etwas allgemein


die islamitischen Völker, auf der anderen die buddhistischen, welche die Ver¬
breitung der Märchen fast über die ganze Welt bewerkstelligt haben."

Ueber die Verschiedenheit der Märchen spricht sich Benfey im Anschluß
hieran so aus: „In Wirklichkeit reducirt sich die große Masse, insbesondere
der europäischen Märchen, auf eine keineswegs beträchtliche Anzahl von Grund¬
formen» — Hahn hat seitdem in der That versucht, die Reduction aus ge¬
wisse Formeln vorzunehmen —, aus denen sie sich mit mehr oder weniger
Glück und Geschick durch theils volkliche, theils individuelle Thätigkeit ver¬
vielfältig haben. — Aus der Literatur gingen die Märchen ins Volk über,
aus diesem, verwandelt, wieder in die Literatur, dann wieder ins Volk
u. f. w. und erreichen, insbesondere durch diese wechselseitige Thätigkeit natio¬
nalen und individuellen Geistes, jenen Charakter nationaler Wahrheit und
individueller Einheit, welcher nicht wenigen von ihnen einen so hohen poe¬
tischen Werth verleiht."

Diese Behauptungen der berühmten Orientalisten scheinen nun den An¬
schauungen unseres ersten Germanisten schnurstracks zu widersprechen. Und
doch ist dem nicht ganz so; wenigstens nicht in der Weise, wie es auf den
ersten Augenblick erscheint. Doch zunächst noch etwas Anderes. Benfey
selbst hat seine Ausführungen in einem Punkte seit dem Erscheinen seiner
Einleitung zu dem Pantschtatanlra modificirt und andere Orientalisten sind in
diesem Punkte noch weiter gegangen. Nachdem F. Liebrecht die buddhistische
Quelle zu dem griechischen Roman des 7. Jahrhunderts n. Ch., Barlaam
und Josaphat aufgefunden und nachgewiesen hatte, gab Benfey bereitwillig
zu, daß durch diesen Nachweis das Bestehen eines reicheren literarischen Ver¬
kehrs zwischen Indien und den Mittelmeerstaaten vor dem 10. Jahrhundert
unserer Aera im Allgemeinen als hinlänglich bewiesen anzunehmen sei, und Gilde¬
meister hat als das wohl älteste Beispiel von Uebertragung indischen No¬
vellenstoffs nach dem Westen, mit Recht auf die Erzählung vom bösen Dämon
(Raxasa) Asmodaios hingewiesen, die sich in dem apokryphen Bibelbuch
Tobie, das im ersten Jahrhundert vor Christus entstanden ist, findet.

Aber ganz abgesehen von dieser Modifikation, die Benfey selbst an sei¬
ner Theorie vorgenommen hat, ist dieselbe der Grimmschen Auffassung vom
Wesen und der Entstehung des Märchen nicht ganz so widersprechend, als
es scheint. Denn bezieht sich Benfey's Theorie auf die Entstehung der
Märchen? Keineswegs. Sie erstreckt sich nur auf die Verbreitung derselben
nach Europa, Centralasien u. s. w. von Indien aus. Ueber die Entstehung
der Märchen in Indien selbst gibt sie gar keinen Aufschluß. Noch viel we¬
niger beantwortet sie eine naheliegende Gegenfrage, wie es denn zu erklären
sein solle, daß, da, wie sich aus der ungemeinen Verbreitung der Fabeln
und Märchen ergebe, die Lust und Freude am Fabuliren etwas allgemein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/109>, abgerufen am 22.07.2024.