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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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um Einklang mit der Wirklichkeit, wenn sie die geheimnißreichen und furcht¬
baren Naturkräfte schildert, auch das Unglaubliche, das Greuelhafte und Ent¬
setzliche nicht abweist." Diese Auffassung der Märchen als der Ueberreste
oder der Abspiegelungen eines alten, in die Urzeiten hinaufreichenden Volks¬
glaubens ist nun bis auf diesen Tag die verbreiteteste. So hat ihr der hoch¬
verdiente Sammler und Herausgeber griechischer und albanesischer Märchen,
I. G. von Hahn, noch vor wenigen Jahren (1864) mit ausdrücklicher Bezug¬
nahme und Polemik auf eine gerade entgegengesetzte Aufstellung zugestimmt.
"Das Märchen", sagt er, "ist ein auf seiner letzten Entwickelungsstufe an¬
gekommener Mythus. Der nächste Entwickelungsschritt ist dann die volle
Ausmerzung alles Wunderbaren und die Verwandlung der Sage oder des
Märchens in die Erzählung eines rein menschlichen Hergangs."

Diese Grimm'sche Theorie hat nun, wie schon angedeutet, sehr lebhaften
Angriff von Seiten eines der ersten deutschen Orientalisten erfahren. Theodor
Benfey hat denselben, allerdings mehr gelegentlich und ohne-chic Namen der
Brüder Grimm zu nennen, in der Einleitung zu seiner Uebersetzung des
indischen Märchenwerks Pantschatantra mit dem Aufgebot einer eminenten
Gelehrsamkeit unternommen, und von allem Anderen abgesehen durch ihn
unsere Kenntniß des Zusammenhanges orientalischer und occidentaler Lite¬
ratur aufs Werthvollste bereichert. "Meine Untersuchungen", sagt Benfey,
"im Gebiete der Fabeln, Märchen und Erzählungen des'Orients und
Occidents haben mir die Ueberzeugung verschafft, daß wenige Fabeln,
aber eine große Anzahl 'von Märchen -- er behauptet sogar in einer An¬
merkung, er kenne nur ein Märchen, dessen Grundlage mit voller Sicherheit
aus dem Abendland abgeleitet werden müsse -- und Erzählungen von Indien
aus sich fast über die ganze Welt verbreitet haben. Was die Zeit dieser
Verbreitung betrifft, so sind etwa vor dem 10. Jahrhundert nach Christus
wohl nur verhältnißmäßig wenige nach dem Westen gewandert, und zwar
wohl nur durch mündliche Ueberlieferung. Mit dem 10. Jahrhundert aber
begann durch die fortgesetzten Einfälle und Eroberungen islamitischer Völker
in Indien eine immer mehr zunehmende Bekanntschaft mit Indien. . . . Die
indischen Erzählungswerke wurden jetzt in das Persische und Arabische über¬
setzt und theils sie selbst, theils ihr Inhalt verbreitete sich verhältntßmäßig
rasch über die islamitischen Reiche in Asien, Afrika und Europa und auch
über den christlichen Occident. Hier waren die Knotenpunkte das byzantini¬
sche Reich, Italien und Spanien. Aber nicht allein auf diesem Wege drangen
die Märchen nach Europa vor. Mit der buddhistischen Literatur, in der sie
ihren Hauptsitz hatten, kamen sie nach China, von hier nach Tibet, und von
den Tibetanern erhielten sie die Mongolen. Die Mongolen aber haben fast
zwei Jahrhunderte in Europa geherrscht. So sind es auf der einen Seite


um Einklang mit der Wirklichkeit, wenn sie die geheimnißreichen und furcht¬
baren Naturkräfte schildert, auch das Unglaubliche, das Greuelhafte und Ent¬
setzliche nicht abweist." Diese Auffassung der Märchen als der Ueberreste
oder der Abspiegelungen eines alten, in die Urzeiten hinaufreichenden Volks¬
glaubens ist nun bis auf diesen Tag die verbreiteteste. So hat ihr der hoch¬
verdiente Sammler und Herausgeber griechischer und albanesischer Märchen,
I. G. von Hahn, noch vor wenigen Jahren (1864) mit ausdrücklicher Bezug¬
nahme und Polemik auf eine gerade entgegengesetzte Aufstellung zugestimmt.
„Das Märchen", sagt er, „ist ein auf seiner letzten Entwickelungsstufe an¬
gekommener Mythus. Der nächste Entwickelungsschritt ist dann die volle
Ausmerzung alles Wunderbaren und die Verwandlung der Sage oder des
Märchens in die Erzählung eines rein menschlichen Hergangs."

Diese Grimm'sche Theorie hat nun, wie schon angedeutet, sehr lebhaften
Angriff von Seiten eines der ersten deutschen Orientalisten erfahren. Theodor
Benfey hat denselben, allerdings mehr gelegentlich und ohne-chic Namen der
Brüder Grimm zu nennen, in der Einleitung zu seiner Uebersetzung des
indischen Märchenwerks Pantschatantra mit dem Aufgebot einer eminenten
Gelehrsamkeit unternommen, und von allem Anderen abgesehen durch ihn
unsere Kenntniß des Zusammenhanges orientalischer und occidentaler Lite¬
ratur aufs Werthvollste bereichert. „Meine Untersuchungen", sagt Benfey,
„im Gebiete der Fabeln, Märchen und Erzählungen des'Orients und
Occidents haben mir die Ueberzeugung verschafft, daß wenige Fabeln,
aber eine große Anzahl 'von Märchen — er behauptet sogar in einer An¬
merkung, er kenne nur ein Märchen, dessen Grundlage mit voller Sicherheit
aus dem Abendland abgeleitet werden müsse — und Erzählungen von Indien
aus sich fast über die ganze Welt verbreitet haben. Was die Zeit dieser
Verbreitung betrifft, so sind etwa vor dem 10. Jahrhundert nach Christus
wohl nur verhältnißmäßig wenige nach dem Westen gewandert, und zwar
wohl nur durch mündliche Ueberlieferung. Mit dem 10. Jahrhundert aber
begann durch die fortgesetzten Einfälle und Eroberungen islamitischer Völker
in Indien eine immer mehr zunehmende Bekanntschaft mit Indien. . . . Die
indischen Erzählungswerke wurden jetzt in das Persische und Arabische über¬
setzt und theils sie selbst, theils ihr Inhalt verbreitete sich verhältntßmäßig
rasch über die islamitischen Reiche in Asien, Afrika und Europa und auch
über den christlichen Occident. Hier waren die Knotenpunkte das byzantini¬
sche Reich, Italien und Spanien. Aber nicht allein auf diesem Wege drangen
die Märchen nach Europa vor. Mit der buddhistischen Literatur, in der sie
ihren Hauptsitz hatten, kamen sie nach China, von hier nach Tibet, und von
den Tibetanern erhielten sie die Mongolen. Die Mongolen aber haben fast
zwei Jahrhunderte in Europa geherrscht. So sind es auf der einen Seite


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[0108] um Einklang mit der Wirklichkeit, wenn sie die geheimnißreichen und furcht¬ baren Naturkräfte schildert, auch das Unglaubliche, das Greuelhafte und Ent¬ setzliche nicht abweist." Diese Auffassung der Märchen als der Ueberreste oder der Abspiegelungen eines alten, in die Urzeiten hinaufreichenden Volks¬ glaubens ist nun bis auf diesen Tag die verbreiteteste. So hat ihr der hoch¬ verdiente Sammler und Herausgeber griechischer und albanesischer Märchen, I. G. von Hahn, noch vor wenigen Jahren (1864) mit ausdrücklicher Bezug¬ nahme und Polemik auf eine gerade entgegengesetzte Aufstellung zugestimmt. „Das Märchen", sagt er, „ist ein auf seiner letzten Entwickelungsstufe an¬ gekommener Mythus. Der nächste Entwickelungsschritt ist dann die volle Ausmerzung alles Wunderbaren und die Verwandlung der Sage oder des Märchens in die Erzählung eines rein menschlichen Hergangs." Diese Grimm'sche Theorie hat nun, wie schon angedeutet, sehr lebhaften Angriff von Seiten eines der ersten deutschen Orientalisten erfahren. Theodor Benfey hat denselben, allerdings mehr gelegentlich und ohne-chic Namen der Brüder Grimm zu nennen, in der Einleitung zu seiner Uebersetzung des indischen Märchenwerks Pantschatantra mit dem Aufgebot einer eminenten Gelehrsamkeit unternommen, und von allem Anderen abgesehen durch ihn unsere Kenntniß des Zusammenhanges orientalischer und occidentaler Lite¬ ratur aufs Werthvollste bereichert. „Meine Untersuchungen", sagt Benfey, „im Gebiete der Fabeln, Märchen und Erzählungen des'Orients und Occidents haben mir die Ueberzeugung verschafft, daß wenige Fabeln, aber eine große Anzahl 'von Märchen — er behauptet sogar in einer An¬ merkung, er kenne nur ein Märchen, dessen Grundlage mit voller Sicherheit aus dem Abendland abgeleitet werden müsse — und Erzählungen von Indien aus sich fast über die ganze Welt verbreitet haben. Was die Zeit dieser Verbreitung betrifft, so sind etwa vor dem 10. Jahrhundert nach Christus wohl nur verhältnißmäßig wenige nach dem Westen gewandert, und zwar wohl nur durch mündliche Ueberlieferung. Mit dem 10. Jahrhundert aber begann durch die fortgesetzten Einfälle und Eroberungen islamitischer Völker in Indien eine immer mehr zunehmende Bekanntschaft mit Indien. . . . Die indischen Erzählungswerke wurden jetzt in das Persische und Arabische über¬ setzt und theils sie selbst, theils ihr Inhalt verbreitete sich verhältntßmäßig rasch über die islamitischen Reiche in Asien, Afrika und Europa und auch über den christlichen Occident. Hier waren die Knotenpunkte das byzantini¬ sche Reich, Italien und Spanien. Aber nicht allein auf diesem Wege drangen die Märchen nach Europa vor. Mit der buddhistischen Literatur, in der sie ihren Hauptsitz hatten, kamen sie nach China, von hier nach Tibet, und von den Tibetanern erhielten sie die Mongolen. Die Mongolen aber haben fast zwei Jahrhunderte in Europa geherrscht. So sind es auf der einen Seite

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/108>, abgerufen am 22.07.2024.