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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Menschliches ist und ganz besonders einer Stufe der menschlichen Cultur
entsprechend zu sein scheint, --kein anderes Volk als die Inder originale Er¬
zeugnisse in dieser Gattung der Poesie hervorgebracht habe; seien die Völker
auch verschieden poetisch begabt, so könne man doch nicht annehmen, wenig¬
stens widerspreche das allen sonstigen Analogien auf diesem Gebiete, daß
nur Ein Volk in dieser Beziehung so originelle Begabung empfangen habe,
daß sich alle übrigen nur empfangend zu ihm zu verhalten hätten. Dazu
komme noch, daß die indischen Märchenbücher verhältnißmäßig jung, wenig¬
stens später entstanden seien, als die äsopischen Fabeln, deren Bekannt¬
schaft in Indien ja durch das Pantschatantra selbst gesichert sei, während
man doch in Eghpten und Europa schon märchenartige Erzählungen als in
sehr früher Zeit vorhanden nachweisen könne. Wer kennt in der That nicht
die egyptische Erzählung vom Schatzhause des Königs Rhampsinit, die uns
der Vater der Geschichte aufbewahrt hat? Emile de Rouge hat uns ja noch
dazu eine Erzählung aus einer Papyrusrolle übersetzt, die bis unter den
Pharao Menephtah, den Sohn Ramses des Großen, (denselben Pharao höchst
wahrscheinlich, unter dem die Kinder Israel Egypten verließen), also bis an
das Ende des 14. oder in den Anfang des 13. Jahrhunderts vor unserer
Aera hinaufgeht. Diese Erzählung vom Saku und Anepu, die Mannhardt
das älteste Märchen der Welt genannt hat, enthält nämlich eine Menge
Züge, welche auch in längst bekannten, noch heute im Volksmunde fort¬
lebenden abendländischen Märchen vorkommen.

Und kennen wir aus dem classischen Alterthume etwa keine Märchen,
und keine märchenartigen Erzählungen? Und würde der Beweis aus dem
Schweigen der classischen Schriftsteller über Volksmärchen von Gewicht sein
können? Wer unsere deutsche classische Literatur vor dem Erscheinen der
Grimm'schen Kinder- und Hausmärchen auf ihre Zeugnisse über das Vor¬
handensein von deutschen Volksmärchen prüfen wollte, würde vielleicht noch
weniger Spuren von denselben auffinden, als sich bei den griechischen und
römischen Autoren Beweise von der Existenz von griechischen und römischen
Märchen nachweisen lassen. Wir wollen hierbei ganz davon absehen, daß in
verhältnißmäßig später Zeit bei den Römern Dichtungen vorkommen, die
ohne Zweifel auf Volksmärchen zurückzuführen sind, wie denn z. B. L. Fried¬
länder den Versuch gemacht hat, die einzelnen Märchen, aus denen die rei¬
zende Erzählung des Appulejus von Amor und Psyche entstanden ist, noch
an der Composition diese Erzählung nachzuweisen und aus ihr heraus¬
zuschälen. Nein, schon in den ältesten Dichtungen der Griechen lassen sich
einzelne Bestandtheile aufweisen, die einen entschieden märchenhaften Cha¬
rakter an sich tragen. So vor Allen in der Odyssee. Bekannt ist ja die
gelehrte Abhandlung von W. Grimm über die Polyphemvssage. Durch


Menschliches ist und ganz besonders einer Stufe der menschlichen Cultur
entsprechend zu sein scheint, —kein anderes Volk als die Inder originale Er¬
zeugnisse in dieser Gattung der Poesie hervorgebracht habe; seien die Völker
auch verschieden poetisch begabt, so könne man doch nicht annehmen, wenig¬
stens widerspreche das allen sonstigen Analogien auf diesem Gebiete, daß
nur Ein Volk in dieser Beziehung so originelle Begabung empfangen habe,
daß sich alle übrigen nur empfangend zu ihm zu verhalten hätten. Dazu
komme noch, daß die indischen Märchenbücher verhältnißmäßig jung, wenig¬
stens später entstanden seien, als die äsopischen Fabeln, deren Bekannt¬
schaft in Indien ja durch das Pantschatantra selbst gesichert sei, während
man doch in Eghpten und Europa schon märchenartige Erzählungen als in
sehr früher Zeit vorhanden nachweisen könne. Wer kennt in der That nicht
die egyptische Erzählung vom Schatzhause des Königs Rhampsinit, die uns
der Vater der Geschichte aufbewahrt hat? Emile de Rouge hat uns ja noch
dazu eine Erzählung aus einer Papyrusrolle übersetzt, die bis unter den
Pharao Menephtah, den Sohn Ramses des Großen, (denselben Pharao höchst
wahrscheinlich, unter dem die Kinder Israel Egypten verließen), also bis an
das Ende des 14. oder in den Anfang des 13. Jahrhunderts vor unserer
Aera hinaufgeht. Diese Erzählung vom Saku und Anepu, die Mannhardt
das älteste Märchen der Welt genannt hat, enthält nämlich eine Menge
Züge, welche auch in längst bekannten, noch heute im Volksmunde fort¬
lebenden abendländischen Märchen vorkommen.

Und kennen wir aus dem classischen Alterthume etwa keine Märchen,
und keine märchenartigen Erzählungen? Und würde der Beweis aus dem
Schweigen der classischen Schriftsteller über Volksmärchen von Gewicht sein
können? Wer unsere deutsche classische Literatur vor dem Erscheinen der
Grimm'schen Kinder- und Hausmärchen auf ihre Zeugnisse über das Vor¬
handensein von deutschen Volksmärchen prüfen wollte, würde vielleicht noch
weniger Spuren von denselben auffinden, als sich bei den griechischen und
römischen Autoren Beweise von der Existenz von griechischen und römischen
Märchen nachweisen lassen. Wir wollen hierbei ganz davon absehen, daß in
verhältnißmäßig später Zeit bei den Römern Dichtungen vorkommen, die
ohne Zweifel auf Volksmärchen zurückzuführen sind, wie denn z. B. L. Fried¬
länder den Versuch gemacht hat, die einzelnen Märchen, aus denen die rei¬
zende Erzählung des Appulejus von Amor und Psyche entstanden ist, noch
an der Composition diese Erzählung nachzuweisen und aus ihr heraus¬
zuschälen. Nein, schon in den ältesten Dichtungen der Griechen lassen sich
einzelne Bestandtheile aufweisen, die einen entschieden märchenhaften Cha¬
rakter an sich tragen. So vor Allen in der Odyssee. Bekannt ist ja die
gelehrte Abhandlung von W. Grimm über die Polyphemvssage. Durch


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[0110] Menschliches ist und ganz besonders einer Stufe der menschlichen Cultur entsprechend zu sein scheint, —kein anderes Volk als die Inder originale Er¬ zeugnisse in dieser Gattung der Poesie hervorgebracht habe; seien die Völker auch verschieden poetisch begabt, so könne man doch nicht annehmen, wenig¬ stens widerspreche das allen sonstigen Analogien auf diesem Gebiete, daß nur Ein Volk in dieser Beziehung so originelle Begabung empfangen habe, daß sich alle übrigen nur empfangend zu ihm zu verhalten hätten. Dazu komme noch, daß die indischen Märchenbücher verhältnißmäßig jung, wenig¬ stens später entstanden seien, als die äsopischen Fabeln, deren Bekannt¬ schaft in Indien ja durch das Pantschatantra selbst gesichert sei, während man doch in Eghpten und Europa schon märchenartige Erzählungen als in sehr früher Zeit vorhanden nachweisen könne. Wer kennt in der That nicht die egyptische Erzählung vom Schatzhause des Königs Rhampsinit, die uns der Vater der Geschichte aufbewahrt hat? Emile de Rouge hat uns ja noch dazu eine Erzählung aus einer Papyrusrolle übersetzt, die bis unter den Pharao Menephtah, den Sohn Ramses des Großen, (denselben Pharao höchst wahrscheinlich, unter dem die Kinder Israel Egypten verließen), also bis an das Ende des 14. oder in den Anfang des 13. Jahrhunderts vor unserer Aera hinaufgeht. Diese Erzählung vom Saku und Anepu, die Mannhardt das älteste Märchen der Welt genannt hat, enthält nämlich eine Menge Züge, welche auch in längst bekannten, noch heute im Volksmunde fort¬ lebenden abendländischen Märchen vorkommen. Und kennen wir aus dem classischen Alterthume etwa keine Märchen, und keine märchenartigen Erzählungen? Und würde der Beweis aus dem Schweigen der classischen Schriftsteller über Volksmärchen von Gewicht sein können? Wer unsere deutsche classische Literatur vor dem Erscheinen der Grimm'schen Kinder- und Hausmärchen auf ihre Zeugnisse über das Vor¬ handensein von deutschen Volksmärchen prüfen wollte, würde vielleicht noch weniger Spuren von denselben auffinden, als sich bei den griechischen und römischen Autoren Beweise von der Existenz von griechischen und römischen Märchen nachweisen lassen. Wir wollen hierbei ganz davon absehen, daß in verhältnißmäßig später Zeit bei den Römern Dichtungen vorkommen, die ohne Zweifel auf Volksmärchen zurückzuführen sind, wie denn z. B. L. Fried¬ länder den Versuch gemacht hat, die einzelnen Märchen, aus denen die rei¬ zende Erzählung des Appulejus von Amor und Psyche entstanden ist, noch an der Composition diese Erzählung nachzuweisen und aus ihr heraus¬ zuschälen. Nein, schon in den ältesten Dichtungen der Griechen lassen sich einzelne Bestandtheile aufweisen, die einen entschieden märchenhaften Cha¬ rakter an sich tragen. So vor Allen in der Odyssee. Bekannt ist ja die gelehrte Abhandlung von W. Grimm über die Polyphemvssage. Durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/110>, abgerufen am 24.08.2024.