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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Gelehrsamkeit die literarischen Denkmale aller Zeiten und aller Völker, soweit
sie ihnen zu ihrer Zeit zugänglich waren, zur Erklärung und Vergleichung
dieser volksthümlichen Erzählungen herbeigezogen. Nach ihnen und zum großen
Theil auf ihre persönliche Anregung hin sind dann eine Menge Sammlungen
deutscher Märchen entstanden; scandinavische, slavische, romanische, walisische
Alterthumsforscher, kurz Vertreter fast aller in Europa seßhaft gewordenen
Nationen und Völkerschaften, haben dann nach dem Vorbilde der berühmten
deutschen Altmeister die Ueberreste dieser Volkspoesie ihrer Heimat zusammen¬
getragen. Und weit über Europa hinaus erstreckte sich der Sammeleifer.
Vorzugsweise waren es aber auch hier Deutsche, welche die Märchen central-
astatischer. südafrikanischer und polynesischer Völker sammelten und Heraus¬
gaben, von der rein ltterarischen Bearbeitung indischer und arabischer Fabel¬
werke ganz zu schweigen, die sich gleichfalls fast ausschließlich in deutschen
Händen befand. Wer kennt nicht die Thätigkeit der Benfey, Brockhaus.
M. Müller a"f diesem Gebiete?

Hatte man aber so nach und nach die reichsten Sammlungen von Mär¬
chen angelegt, was war natürlicher, als daß man nun auch darauf ausging,
einen Einblick in die Natur und das Wachsthum dieser merkwürdigen Pro-
ducte des Volksgeistes zu gewinnen. Forderte doch die Beschaffenheit der¬
selben von selbst hierzu auf. Ein und dasselbe Märchen fand man mit ge¬
ringen Abweichungen unter allen Himmelsstrichen wieder, ein anderes, bisher
nur einmal z. B. in Deutschland nachgewiesen, tauchte urplötzlich in der
Mongolei wieder auf. Wie sollte man sich diese Uebereinstimmung erklären,
wie bei aller auffallenden Uebereinstimmung in manchen Einzelheiten wieder
Grundverschiedenheiten im Ganzen deuten? Schon die Brüder Grimm haben
daher, im Wesentlichen übereinstimmend, ihre Ansicht über das Wesen und
die Bedeutung der Märchen ausgesprochen, und allgemein bekannt ist die
Stellung, die ihnen I. Grimm bei seiner Neconstruetion der deutschen My¬
thologie eingeräumt hat. "Gemeinsam allen Märchen", sagt er einmal,
"sind die Ueberreste eines in die älteste Zeit hinaufreichenden Glaubens, der
sich in bildlicher Auffassung über sinnliche Dinge ausspricht. Dies Mythische
gleicht kleinen Stückchen eines zersprungenen Edelsteins, die auf dem von
Gras und Blumen überwachsenen Boden zerstreut liegen und nur von dem
schärfer blickenden Auge entdeckt werden: die Bedeutung davon ist längst
verloren, aber sie wird doch empfunden und gibt dem Märchen seinen Ge¬
halt, während es zugleich die natürliche Lust am Wunderbaren befriedigt;
niemals sind sie bloßes Farbenspiel gehaltloser Phantasie.
Das Mythische dehnt sich aus, je weiter wir zurückgehen, ja es scheint den
einzigen Inhalt der ältesten Dichtung ausgemacht zu haben. Wir sehen,
wie diese, getragen von der Erhabenheit ihres Gegenstandes und unbesorgt


13 *

Gelehrsamkeit die literarischen Denkmale aller Zeiten und aller Völker, soweit
sie ihnen zu ihrer Zeit zugänglich waren, zur Erklärung und Vergleichung
dieser volksthümlichen Erzählungen herbeigezogen. Nach ihnen und zum großen
Theil auf ihre persönliche Anregung hin sind dann eine Menge Sammlungen
deutscher Märchen entstanden; scandinavische, slavische, romanische, walisische
Alterthumsforscher, kurz Vertreter fast aller in Europa seßhaft gewordenen
Nationen und Völkerschaften, haben dann nach dem Vorbilde der berühmten
deutschen Altmeister die Ueberreste dieser Volkspoesie ihrer Heimat zusammen¬
getragen. Und weit über Europa hinaus erstreckte sich der Sammeleifer.
Vorzugsweise waren es aber auch hier Deutsche, welche die Märchen central-
astatischer. südafrikanischer und polynesischer Völker sammelten und Heraus¬
gaben, von der rein ltterarischen Bearbeitung indischer und arabischer Fabel¬
werke ganz zu schweigen, die sich gleichfalls fast ausschließlich in deutschen
Händen befand. Wer kennt nicht die Thätigkeit der Benfey, Brockhaus.
M. Müller a»f diesem Gebiete?

Hatte man aber so nach und nach die reichsten Sammlungen von Mär¬
chen angelegt, was war natürlicher, als daß man nun auch darauf ausging,
einen Einblick in die Natur und das Wachsthum dieser merkwürdigen Pro-
ducte des Volksgeistes zu gewinnen. Forderte doch die Beschaffenheit der¬
selben von selbst hierzu auf. Ein und dasselbe Märchen fand man mit ge¬
ringen Abweichungen unter allen Himmelsstrichen wieder, ein anderes, bisher
nur einmal z. B. in Deutschland nachgewiesen, tauchte urplötzlich in der
Mongolei wieder auf. Wie sollte man sich diese Uebereinstimmung erklären,
wie bei aller auffallenden Uebereinstimmung in manchen Einzelheiten wieder
Grundverschiedenheiten im Ganzen deuten? Schon die Brüder Grimm haben
daher, im Wesentlichen übereinstimmend, ihre Ansicht über das Wesen und
die Bedeutung der Märchen ausgesprochen, und allgemein bekannt ist die
Stellung, die ihnen I. Grimm bei seiner Neconstruetion der deutschen My¬
thologie eingeräumt hat. „Gemeinsam allen Märchen", sagt er einmal,
„sind die Ueberreste eines in die älteste Zeit hinaufreichenden Glaubens, der
sich in bildlicher Auffassung über sinnliche Dinge ausspricht. Dies Mythische
gleicht kleinen Stückchen eines zersprungenen Edelsteins, die auf dem von
Gras und Blumen überwachsenen Boden zerstreut liegen und nur von dem
schärfer blickenden Auge entdeckt werden: die Bedeutung davon ist längst
verloren, aber sie wird doch empfunden und gibt dem Märchen seinen Ge¬
halt, während es zugleich die natürliche Lust am Wunderbaren befriedigt;
niemals sind sie bloßes Farbenspiel gehaltloser Phantasie.
Das Mythische dehnt sich aus, je weiter wir zurückgehen, ja es scheint den
einzigen Inhalt der ältesten Dichtung ausgemacht zu haben. Wir sehen,
wie diese, getragen von der Erhabenheit ihres Gegenstandes und unbesorgt


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[0107] Gelehrsamkeit die literarischen Denkmale aller Zeiten und aller Völker, soweit sie ihnen zu ihrer Zeit zugänglich waren, zur Erklärung und Vergleichung dieser volksthümlichen Erzählungen herbeigezogen. Nach ihnen und zum großen Theil auf ihre persönliche Anregung hin sind dann eine Menge Sammlungen deutscher Märchen entstanden; scandinavische, slavische, romanische, walisische Alterthumsforscher, kurz Vertreter fast aller in Europa seßhaft gewordenen Nationen und Völkerschaften, haben dann nach dem Vorbilde der berühmten deutschen Altmeister die Ueberreste dieser Volkspoesie ihrer Heimat zusammen¬ getragen. Und weit über Europa hinaus erstreckte sich der Sammeleifer. Vorzugsweise waren es aber auch hier Deutsche, welche die Märchen central- astatischer. südafrikanischer und polynesischer Völker sammelten und Heraus¬ gaben, von der rein ltterarischen Bearbeitung indischer und arabischer Fabel¬ werke ganz zu schweigen, die sich gleichfalls fast ausschließlich in deutschen Händen befand. Wer kennt nicht die Thätigkeit der Benfey, Brockhaus. M. Müller a»f diesem Gebiete? Hatte man aber so nach und nach die reichsten Sammlungen von Mär¬ chen angelegt, was war natürlicher, als daß man nun auch darauf ausging, einen Einblick in die Natur und das Wachsthum dieser merkwürdigen Pro- ducte des Volksgeistes zu gewinnen. Forderte doch die Beschaffenheit der¬ selben von selbst hierzu auf. Ein und dasselbe Märchen fand man mit ge¬ ringen Abweichungen unter allen Himmelsstrichen wieder, ein anderes, bisher nur einmal z. B. in Deutschland nachgewiesen, tauchte urplötzlich in der Mongolei wieder auf. Wie sollte man sich diese Uebereinstimmung erklären, wie bei aller auffallenden Uebereinstimmung in manchen Einzelheiten wieder Grundverschiedenheiten im Ganzen deuten? Schon die Brüder Grimm haben daher, im Wesentlichen übereinstimmend, ihre Ansicht über das Wesen und die Bedeutung der Märchen ausgesprochen, und allgemein bekannt ist die Stellung, die ihnen I. Grimm bei seiner Neconstruetion der deutschen My¬ thologie eingeräumt hat. „Gemeinsam allen Märchen", sagt er einmal, „sind die Ueberreste eines in die älteste Zeit hinaufreichenden Glaubens, der sich in bildlicher Auffassung über sinnliche Dinge ausspricht. Dies Mythische gleicht kleinen Stückchen eines zersprungenen Edelsteins, die auf dem von Gras und Blumen überwachsenen Boden zerstreut liegen und nur von dem schärfer blickenden Auge entdeckt werden: die Bedeutung davon ist längst verloren, aber sie wird doch empfunden und gibt dem Märchen seinen Ge¬ halt, während es zugleich die natürliche Lust am Wunderbaren befriedigt; niemals sind sie bloßes Farbenspiel gehaltloser Phantasie. Das Mythische dehnt sich aus, je weiter wir zurückgehen, ja es scheint den einzigen Inhalt der ältesten Dichtung ausgemacht zu haben. Wir sehen, wie diese, getragen von der Erhabenheit ihres Gegenstandes und unbesorgt 13 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/107>, abgerufen am 22.07.2024.