Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.den hergebrachten orthodoxen Formen. Langsam brachen sich einzelne Schüler Diesen Parteien bietet nun die freie Verfassung ein unbegrenztes Gebiet den hergebrachten orthodoxen Formen. Langsam brachen sich einzelne Schüler Diesen Parteien bietet nun die freie Verfassung ein unbegrenztes Gebiet <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0090" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121311"/> <p xml:id="ID_310" prev="#ID_309"> den hergebrachten orthodoxen Formen. Langsam brachen sich einzelne Schüler<lb/> Schleiermacher's Bahn, und tiefer noch waren die Wirkungen, als mit dem<lb/> Anfang der dreißiger Jahre der englische Methodismus eindrang, der die<lb/> gemeinsame Mutter sowohl einer freisinnigen als einer zur Orthodoxie zurück¬<lb/> lenkenden Richtung war. Jetzt zuerst bildeten sich Parteien mit eigenen<lb/> Organen, und der Kampf vertiefte sich um so rascher, als nun die neue<lb/> deutsche Theologie in immer breiterer Weise sich Eingang verschaffte. Die Unter¬<lb/> suchungen der Tübinger Schule fanden eine scharfsinnige und geistreiche Ueber-<lb/> tragung. Lange bevor Rennens Buch so viel Staub aufwarf, hatten diese<lb/> Studien, zuerst von den Straßburgern noch mit großer Zurückhaltung ein¬<lb/> geführt, an E. Scherer, Nicolas. Reville, Nefftzer u. A. beredte Vertheidiger,<lb/> die damit der theologischen Wissenschaft in Frankreich einen ganz neuen Hori¬<lb/> zont eröffneten und einer Partei, welche sich auf die ursprüngliche Christus¬<lb/> lehre gegen die spätere Kirchenlehre berief, mächtige Waffen in die Hand<lb/> gaben. Wesentlich auf deutscher Geistesarbeit beruhend, unterschied sich dieser<lb/> französische Liberalismus doch von Anfang an durch zwei ihm eigenthüm¬<lb/> lichen Momente. Vor allem nämlich wußte er sich rasch eine populäre<lb/> Wirkung zu sichern, indem er die Resultate der Kritik in anziehenden, wenn<lb/> auch eclectischen Essays darbot, welche sich ein weites Lesepublicum erwarben<lb/> und die religiösen Interessen fast zum Rang von Tagesfragen erhoben. Das<lb/> andere aber ist die praktische Tendenz, die sich von Anfang an das wissen¬<lb/> schaftliche Interesse knüpfte. Was der Gelehrte gefunden, mußte auch der<lb/> Gemeinde zu gut kommen. Einen Widerspruch zu dulden zwischen einem<lb/> Christenthum für Gebildete und einem Christenthum für das Volk, zwischen<lb/> einer officiellen Lehre für die Kanzel und einer esoterischen Lehre für die<lb/> Wissenden, war ganz gegen das französische Temperament. Die wissenschaft¬<lb/> lichen Richtungen wurden sofort zu kirchlichen Parteien.</p><lb/> <p xml:id="ID_311" next="#ID_312"> Diesen Parteien bietet nun die freie Verfassung ein unbegrenztes Gebiet<lb/> wetteifernder Wirksamkeit. Es fehlt eine oberste Gewalt, die eine einseitige<lb/> Richtung begünstigen, eine gegnerische unterdrücken könnte. Niemand kann<lb/> einem Conststorium, das aus einer Mehrheit liberaler Wähler hervorgegangen<lb/> ist, verbieten, freisinnige Geistliche anzustellen, und diese sind Niemand ver¬<lb/> antwortlich als ihren Gemeinden und ihren l Consistorien. Eine officielle<lb/> Lehre existirt nicht, selbst die Verbindlichkeit des Glaubensbekenntnisses von<lb/> Rochelle ist schon seit Napoleon I. aufgehoben, der Geistliche ist für seinen<lb/> Lehrvortrag einzig an die Schrift ohne jede andere Autorität gewiesen. Unter<lb/> diesen Umständen gibt es keine herrschende Orthodoxie, von der sich die freieren<lb/> Richtungen erst das Recht der Existenz zu erbetteln hätten, gleichberechtigt<lb/> stehen sich die Parteien gegenüber. Jede ist ohne Hilfe der Staatsgewalt<lb/> auf die eigenen Kräfte angewiesen und keine Rücksicht auf Gnade oder</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0090]
den hergebrachten orthodoxen Formen. Langsam brachen sich einzelne Schüler
Schleiermacher's Bahn, und tiefer noch waren die Wirkungen, als mit dem
Anfang der dreißiger Jahre der englische Methodismus eindrang, der die
gemeinsame Mutter sowohl einer freisinnigen als einer zur Orthodoxie zurück¬
lenkenden Richtung war. Jetzt zuerst bildeten sich Parteien mit eigenen
Organen, und der Kampf vertiefte sich um so rascher, als nun die neue
deutsche Theologie in immer breiterer Weise sich Eingang verschaffte. Die Unter¬
suchungen der Tübinger Schule fanden eine scharfsinnige und geistreiche Ueber-
tragung. Lange bevor Rennens Buch so viel Staub aufwarf, hatten diese
Studien, zuerst von den Straßburgern noch mit großer Zurückhaltung ein¬
geführt, an E. Scherer, Nicolas. Reville, Nefftzer u. A. beredte Vertheidiger,
die damit der theologischen Wissenschaft in Frankreich einen ganz neuen Hori¬
zont eröffneten und einer Partei, welche sich auf die ursprüngliche Christus¬
lehre gegen die spätere Kirchenlehre berief, mächtige Waffen in die Hand
gaben. Wesentlich auf deutscher Geistesarbeit beruhend, unterschied sich dieser
französische Liberalismus doch von Anfang an durch zwei ihm eigenthüm¬
lichen Momente. Vor allem nämlich wußte er sich rasch eine populäre
Wirkung zu sichern, indem er die Resultate der Kritik in anziehenden, wenn
auch eclectischen Essays darbot, welche sich ein weites Lesepublicum erwarben
und die religiösen Interessen fast zum Rang von Tagesfragen erhoben. Das
andere aber ist die praktische Tendenz, die sich von Anfang an das wissen¬
schaftliche Interesse knüpfte. Was der Gelehrte gefunden, mußte auch der
Gemeinde zu gut kommen. Einen Widerspruch zu dulden zwischen einem
Christenthum für Gebildete und einem Christenthum für das Volk, zwischen
einer officiellen Lehre für die Kanzel und einer esoterischen Lehre für die
Wissenden, war ganz gegen das französische Temperament. Die wissenschaft¬
lichen Richtungen wurden sofort zu kirchlichen Parteien.
Diesen Parteien bietet nun die freie Verfassung ein unbegrenztes Gebiet
wetteifernder Wirksamkeit. Es fehlt eine oberste Gewalt, die eine einseitige
Richtung begünstigen, eine gegnerische unterdrücken könnte. Niemand kann
einem Conststorium, das aus einer Mehrheit liberaler Wähler hervorgegangen
ist, verbieten, freisinnige Geistliche anzustellen, und diese sind Niemand ver¬
antwortlich als ihren Gemeinden und ihren l Consistorien. Eine officielle
Lehre existirt nicht, selbst die Verbindlichkeit des Glaubensbekenntnisses von
Rochelle ist schon seit Napoleon I. aufgehoben, der Geistliche ist für seinen
Lehrvortrag einzig an die Schrift ohne jede andere Autorität gewiesen. Unter
diesen Umständen gibt es keine herrschende Orthodoxie, von der sich die freieren
Richtungen erst das Recht der Existenz zu erbetteln hätten, gleichberechtigt
stehen sich die Parteien gegenüber. Jede ist ohne Hilfe der Staatsgewalt
auf die eigenen Kräfte angewiesen und keine Rücksicht auf Gnade oder
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