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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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die von dem frommen Sinn des erwähnten Ritters beseelt sind. Zahlreiche
Familien genießen am Sabbath nur kalte Speisen, damit auf dem Küchen-
heerd Ruhe herrsche; sie halten es für Sünde, einen Hemdenknopf anzunähen,
in ein profanes Buch zu gucken, zu fahren oder zu reiten. Der heilige Eifer
fällt zuweilen ins Komische. Ein deutscher Freund, der bei einer Mrs. Jones in
der City wohnt, sah einmal die junge Dienstmagd vor einem aufgeschlagenen Fo¬
liobandsitzen und gefährlich mit dem Kopfe nicken. Auf die Frage, was sie da thue,
erwiderte sie gähnend, !daß sie jeden Sonntag eine Stunde "bei dem Buch
sein" müsse; "Herrin" (Mrs. ohne Namen und Artikel) wolle es so." -- "Es
ist wol recht langweilig?" meinte er. -- "Ich weiß nicht, ich kann nicht lesen."
-- "El, warum liest dann "Mrs." Dir nicht lieber daraus vor?" -- "Hat
sie schon ost gethan, aber ich versteh's nicht." Er blickte hinein, es war die heilige
Schrift in neidischer Uebertraaung, denn Mrs. Jones stammte aus Wales
und sprach mit Gott nur wallisisch, obgleich sie diese halbtodte Sprache schon
mehr als halb vergessen hatte. Als aber mein Freund der Hausfrau be¬
merkte, das Mädchen möge wohl über dem Buch sitzen, aber sich dabei schwer¬
lich etwas denken, war die Antwort: "Wenn auch! Es ist doch immer die
Bibel, und" -- (wie man von Hausmitteln sagt) -- eem't Kurt"
(schaden kann's nicht). -- Ich bin überzeugt, manche Leute lächeln über
Mrs. Jones, die blos weniger consequent, aber keinen Gran weiser sind als
die wallisische Dame. Herrscht nicht ewige Unzufriedenheit mit dem bestehen¬
den Sabbathgesetz? Wenn Hunderte es ein wenig mildern möchten, wollen
Tausende und Zehntausende es verschärfen, während die feinen und schein¬
feinen Classen sich den stsrtus puo loben, der keinen respectablen Menschen
beenge. In jeder Session empfängt das Parlament eine Handvoll Petitio¬
nen um Oeffnung von Museen und Gallerien und eine Schiffsladung Pe¬
titionen nicht nur dagegen, sondern auch um Schließung der Wirthshäuser
während des ganzen Sonntags, und um weitere Kürzung der Frist am
Morgen, während deren Milch, Wochenblätter. Hciringe und andere Luxus¬
gegenstände verkauft werden dürfen. Zu letzterem Zweck wurden seit 1860
verschiedene Gesetze nach einander gegeben, die das Gemüth der Frommen
aber noch nicht beruhigt haben. Merkwürdig ist der Aufwand an Geld und
Wachsamkeit, womit die Liga "lor tke I^ora's va^'s Letter 0dsörvg.ne<z" (die
Gegner lesen "Lieder Obssrvanee") für ihre Sache kämpft. Neulich erst er¬
schien in den Blättern ein Jahresbericht der Liga, wonach sie 30,000 Pfd. Se.
zum Auslaufen von Cristallpalastactien verwandt hat. Die Besitzer dieser
Actien werden mit ihrem Recht als Miteigenthümer keinen Mißbrauch trei¬
ben, werden um Sonntag weder selber den Palast betreten, noch einen Gast
dort einführen. Etwas ist damit schon gewonnen. Jede an Ort und Stelle


die von dem frommen Sinn des erwähnten Ritters beseelt sind. Zahlreiche
Familien genießen am Sabbath nur kalte Speisen, damit auf dem Küchen-
heerd Ruhe herrsche; sie halten es für Sünde, einen Hemdenknopf anzunähen,
in ein profanes Buch zu gucken, zu fahren oder zu reiten. Der heilige Eifer
fällt zuweilen ins Komische. Ein deutscher Freund, der bei einer Mrs. Jones in
der City wohnt, sah einmal die junge Dienstmagd vor einem aufgeschlagenen Fo¬
liobandsitzen und gefährlich mit dem Kopfe nicken. Auf die Frage, was sie da thue,
erwiderte sie gähnend, !daß sie jeden Sonntag eine Stunde „bei dem Buch
sein" müsse; „Herrin" (Mrs. ohne Namen und Artikel) wolle es so." — „Es
ist wol recht langweilig?" meinte er. — „Ich weiß nicht, ich kann nicht lesen."
— „El, warum liest dann „Mrs." Dir nicht lieber daraus vor?" — „Hat
sie schon ost gethan, aber ich versteh's nicht." Er blickte hinein, es war die heilige
Schrift in neidischer Uebertraaung, denn Mrs. Jones stammte aus Wales
und sprach mit Gott nur wallisisch, obgleich sie diese halbtodte Sprache schon
mehr als halb vergessen hatte. Als aber mein Freund der Hausfrau be¬
merkte, das Mädchen möge wohl über dem Buch sitzen, aber sich dabei schwer¬
lich etwas denken, war die Antwort: „Wenn auch! Es ist doch immer die
Bibel, und" — (wie man von Hausmitteln sagt) — eem't Kurt"
(schaden kann's nicht). — Ich bin überzeugt, manche Leute lächeln über
Mrs. Jones, die blos weniger consequent, aber keinen Gran weiser sind als
die wallisische Dame. Herrscht nicht ewige Unzufriedenheit mit dem bestehen¬
den Sabbathgesetz? Wenn Hunderte es ein wenig mildern möchten, wollen
Tausende und Zehntausende es verschärfen, während die feinen und schein¬
feinen Classen sich den stsrtus puo loben, der keinen respectablen Menschen
beenge. In jeder Session empfängt das Parlament eine Handvoll Petitio¬
nen um Oeffnung von Museen und Gallerien und eine Schiffsladung Pe¬
titionen nicht nur dagegen, sondern auch um Schließung der Wirthshäuser
während des ganzen Sonntags, und um weitere Kürzung der Frist am
Morgen, während deren Milch, Wochenblätter. Hciringe und andere Luxus¬
gegenstände verkauft werden dürfen. Zu letzterem Zweck wurden seit 1860
verschiedene Gesetze nach einander gegeben, die das Gemüth der Frommen
aber noch nicht beruhigt haben. Merkwürdig ist der Aufwand an Geld und
Wachsamkeit, womit die Liga „lor tke I^ora's va^'s Letter 0dsörvg.ne<z" (die
Gegner lesen „Lieder Obssrvanee") für ihre Sache kämpft. Neulich erst er¬
schien in den Blättern ein Jahresbericht der Liga, wonach sie 30,000 Pfd. Se.
zum Auslaufen von Cristallpalastactien verwandt hat. Die Besitzer dieser
Actien werden mit ihrem Recht als Miteigenthümer keinen Mißbrauch trei¬
ben, werden um Sonntag weder selber den Palast betreten, noch einen Gast
dort einführen. Etwas ist damit schon gewonnen. Jede an Ort und Stelle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/485>, abgerufen am 03.07.2024.