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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Reue kennt. Doch behauptet man, daß der Menschengeist allmälig auf jede
Landschaft wirke, daß er in ihrem Gesicht und Charakter lang dauernde
Spuren zurücklasse. Der amerikanische Urwald, zum Beispiel, soll vor der
Ankunft der puritanischen Ansiedler aus England Momente sanfter Heiter¬
keit gehabt, der Fink, die Grasmücke, Sprosser, Zaunkönig und Rothkehlchen
sollen dort gepfiffen und gesungen haben, als wären sie in Europa. Jene
Puritaner nun waren fromm und auch mannhaft, sie wußten ebensogut
zu bauen und zu pflanzen wie Urwälder und Urvölker auszurotten, aber
Musik in der Seele hatten sie nicht. Pilgrim Fathers nennt man sie, aber
sie können wohl Grim Fathers heißen, und als diese grimmen Väter den
Müttern verboten, am Sabbath ihren Säugling zu küssen oder anzulächeln,
ging ein kalter Schauer durch die Wildniß, und die gefiederten Sänger alle
mit Ausnahme des gefühllosen Spottvogels, verloren ihre holde Stimme.
Auf einigen englischen Landstrichen lagert auch noch ein Schatten aus der
Puritanerzeit, wofür man freilich oft rationalistische Erklärungen vorbringt.
So theilte ein naturgeschichtliches Wochenblatt einmal die Beobachtung mit,
daß die fremden Singvögel, die aus Frankreich zur Sommerfrische über den
Canal kommen, wie ein schmales Band über die Mitte der Insel hinziehen
und von dieser Linie selten nach Westen und nie nach Osten abschweifen, als
scheuten sie die kühle Nachbarschaft der Nordsee. Ein Alterthumsforscher da¬
gegen erzählte mir, daß im 17. Jahrhundert eine Nachtigall in Essex vor
den Friedensrichter gestellt wurde, weil sie am Sabbath geschlagen hatte.
Ihre Entschuldigung, sie habe den Schöpfer gepriesen, fand keinen Glauben,
denn ihr Organ klang anakreontisch: sie wurde zu einer Buße von 3 s. 6 ä.
verurtheilt und, da sie nach Poetenart grade nicht bei Gelde war, in den
Thurm gesteckt. Aehnliche Urtheile wurden in mehreren Grafschaften gefällt.
Nach solchen Gegenden soll heute noch keine freie Philomele sich leicht ver¬
irren; und wenn eine dort zufällig im Käfig sitzt, beobachtet sie, wie es heißt,
an allen Sonn- Buß- und Festtagen des Jahres ein respektvolles Schweigen.

Dies sind Geschichten, die sich nicht , begeben haben. Dafür ist es
Thatsache, daß vor kaum 40 Jahren in London ein Versuch gemacht wurde,
die Parkthore am Sonntag durch Parlamentsacte zuzusperren. Das laute
Gemurr des Publicums vereitelte die Maßregel, und bejahrte Londoner, die
sich jener Zeit erinnern, habe ich mit gerechtem Stolz davon sprechen hören,
wie das englische Volk damals den Beweis geliefert, daß es sich nicht knech¬
ten lasse. Andere wieder geben zu verstehen, daß Sir Andrew Agnews, der
die betreffende Bill einbrachte, und sein Anhang im Parlament es eigentlich
mit Gott und Menschen gut gemeint hätten. Wer wollte dies bezweifeln?
Jedermann kann im Kreise seiner Bekannten wohlmeinende Personen entdecken,


Reue kennt. Doch behauptet man, daß der Menschengeist allmälig auf jede
Landschaft wirke, daß er in ihrem Gesicht und Charakter lang dauernde
Spuren zurücklasse. Der amerikanische Urwald, zum Beispiel, soll vor der
Ankunft der puritanischen Ansiedler aus England Momente sanfter Heiter¬
keit gehabt, der Fink, die Grasmücke, Sprosser, Zaunkönig und Rothkehlchen
sollen dort gepfiffen und gesungen haben, als wären sie in Europa. Jene
Puritaner nun waren fromm und auch mannhaft, sie wußten ebensogut
zu bauen und zu pflanzen wie Urwälder und Urvölker auszurotten, aber
Musik in der Seele hatten sie nicht. Pilgrim Fathers nennt man sie, aber
sie können wohl Grim Fathers heißen, und als diese grimmen Väter den
Müttern verboten, am Sabbath ihren Säugling zu küssen oder anzulächeln,
ging ein kalter Schauer durch die Wildniß, und die gefiederten Sänger alle
mit Ausnahme des gefühllosen Spottvogels, verloren ihre holde Stimme.
Auf einigen englischen Landstrichen lagert auch noch ein Schatten aus der
Puritanerzeit, wofür man freilich oft rationalistische Erklärungen vorbringt.
So theilte ein naturgeschichtliches Wochenblatt einmal die Beobachtung mit,
daß die fremden Singvögel, die aus Frankreich zur Sommerfrische über den
Canal kommen, wie ein schmales Band über die Mitte der Insel hinziehen
und von dieser Linie selten nach Westen und nie nach Osten abschweifen, als
scheuten sie die kühle Nachbarschaft der Nordsee. Ein Alterthumsforscher da¬
gegen erzählte mir, daß im 17. Jahrhundert eine Nachtigall in Essex vor
den Friedensrichter gestellt wurde, weil sie am Sabbath geschlagen hatte.
Ihre Entschuldigung, sie habe den Schöpfer gepriesen, fand keinen Glauben,
denn ihr Organ klang anakreontisch: sie wurde zu einer Buße von 3 s. 6 ä.
verurtheilt und, da sie nach Poetenart grade nicht bei Gelde war, in den
Thurm gesteckt. Aehnliche Urtheile wurden in mehreren Grafschaften gefällt.
Nach solchen Gegenden soll heute noch keine freie Philomele sich leicht ver¬
irren; und wenn eine dort zufällig im Käfig sitzt, beobachtet sie, wie es heißt,
an allen Sonn- Buß- und Festtagen des Jahres ein respektvolles Schweigen.

Dies sind Geschichten, die sich nicht , begeben haben. Dafür ist es
Thatsache, daß vor kaum 40 Jahren in London ein Versuch gemacht wurde,
die Parkthore am Sonntag durch Parlamentsacte zuzusperren. Das laute
Gemurr des Publicums vereitelte die Maßregel, und bejahrte Londoner, die
sich jener Zeit erinnern, habe ich mit gerechtem Stolz davon sprechen hören,
wie das englische Volk damals den Beweis geliefert, daß es sich nicht knech¬
ten lasse. Andere wieder geben zu verstehen, daß Sir Andrew Agnews, der
die betreffende Bill einbrachte, und sein Anhang im Parlament es eigentlich
mit Gott und Menschen gut gemeint hätten. Wer wollte dies bezweifeln?
Jedermann kann im Kreise seiner Bekannten wohlmeinende Personen entdecken,


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[0484] Reue kennt. Doch behauptet man, daß der Menschengeist allmälig auf jede Landschaft wirke, daß er in ihrem Gesicht und Charakter lang dauernde Spuren zurücklasse. Der amerikanische Urwald, zum Beispiel, soll vor der Ankunft der puritanischen Ansiedler aus England Momente sanfter Heiter¬ keit gehabt, der Fink, die Grasmücke, Sprosser, Zaunkönig und Rothkehlchen sollen dort gepfiffen und gesungen haben, als wären sie in Europa. Jene Puritaner nun waren fromm und auch mannhaft, sie wußten ebensogut zu bauen und zu pflanzen wie Urwälder und Urvölker auszurotten, aber Musik in der Seele hatten sie nicht. Pilgrim Fathers nennt man sie, aber sie können wohl Grim Fathers heißen, und als diese grimmen Väter den Müttern verboten, am Sabbath ihren Säugling zu küssen oder anzulächeln, ging ein kalter Schauer durch die Wildniß, und die gefiederten Sänger alle mit Ausnahme des gefühllosen Spottvogels, verloren ihre holde Stimme. Auf einigen englischen Landstrichen lagert auch noch ein Schatten aus der Puritanerzeit, wofür man freilich oft rationalistische Erklärungen vorbringt. So theilte ein naturgeschichtliches Wochenblatt einmal die Beobachtung mit, daß die fremden Singvögel, die aus Frankreich zur Sommerfrische über den Canal kommen, wie ein schmales Band über die Mitte der Insel hinziehen und von dieser Linie selten nach Westen und nie nach Osten abschweifen, als scheuten sie die kühle Nachbarschaft der Nordsee. Ein Alterthumsforscher da¬ gegen erzählte mir, daß im 17. Jahrhundert eine Nachtigall in Essex vor den Friedensrichter gestellt wurde, weil sie am Sabbath geschlagen hatte. Ihre Entschuldigung, sie habe den Schöpfer gepriesen, fand keinen Glauben, denn ihr Organ klang anakreontisch: sie wurde zu einer Buße von 3 s. 6 ä. verurtheilt und, da sie nach Poetenart grade nicht bei Gelde war, in den Thurm gesteckt. Aehnliche Urtheile wurden in mehreren Grafschaften gefällt. Nach solchen Gegenden soll heute noch keine freie Philomele sich leicht ver¬ irren; und wenn eine dort zufällig im Käfig sitzt, beobachtet sie, wie es heißt, an allen Sonn- Buß- und Festtagen des Jahres ein respektvolles Schweigen. Dies sind Geschichten, die sich nicht , begeben haben. Dafür ist es Thatsache, daß vor kaum 40 Jahren in London ein Versuch gemacht wurde, die Parkthore am Sonntag durch Parlamentsacte zuzusperren. Das laute Gemurr des Publicums vereitelte die Maßregel, und bejahrte Londoner, die sich jener Zeit erinnern, habe ich mit gerechtem Stolz davon sprechen hören, wie das englische Volk damals den Beweis geliefert, daß es sich nicht knech¬ ten lasse. Andere wieder geben zu verstehen, daß Sir Andrew Agnews, der die betreffende Bill einbrachte, und sein Anhang im Parlament es eigentlich mit Gott und Menschen gut gemeint hätten. Wer wollte dies bezweifeln? Jedermann kann im Kreise seiner Bekannten wohlmeinende Personen entdecken,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/484>, abgerufen am 22.07.2024.