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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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und gebe damit kein Aergerniß. Noch sind wir nicht im alten Jerusalem
angelangt, wie sehr auch die Stillen und Frommen uns dahin'zu steuern
suchen, und wir leben auch nicht im gelobten Lande der Schotten, auf dem
ein starker Abglanz altjüdischer Heiligkeit ruht. Nördlich von Tweed sind
durch Parlamentsacte*) die Wirthshäuser den ganzen Sabbath geschlossen. Es
geschieht trotzdem oder in Folge davon, daß mancher strenger Presbyterianer
schon Vormittags auf der Straße krumme Linien beschreibt. Im Zustande
spirituöser Verzückung tanzt er gleichsam vor einer unsichtbaren Bundeslade;
denn vorsorglich nimmt er jeden Sonnabend einen Tropfen der Tröstung
ins Haus, und da in der 24stündigen Sperre selbst das Ale-Krüglein der
Wittwe versiegen würde, Bier ohnehin leicht schal wird, läßt er sich ein paar
große Sonntagskannen bis an den Rand mit Whisky füllen. In den
schottischen Städten arbeitet kein Cad- (Droschken-) oder Omnibuspferd am
Sabbath. Ein weltlich gesinnter Speculant in Glasgow kam vor ungefähr
1.4 Jahren auf den Gedanken, billige Sonntagsfahrten mit seinem Dampf¬
boot Emperor auf dem Clyde zu unternehmen, und in der volkreichen
Fabrikstadt fanden sich schwache Christen genug, die der Versuchung nicht
widerstehen konnten, auf solche Art frische Luft zu schöpfen und die hübschen
Stromufer zu bewundern. Aber den Lustfahrern wurde an mehreren Punkten
das Landen verwehrt, und als sie in Glasgow wieder ausstiegen, empfing
sie ein Schnaps- und glaubenstrunkenes Heer streitbarer aller Weiber und
Männer mit frommen Flüchen, und suchte an ihnen die mosaische Operation
der Steinigung zu vollziehen. Bei solchen Drohungen blieb es nicht, sondern
ein Mann Gottes schlich sich im Dunkeln auf das freche Fahrzeug und bohrte
ein Loch in den Boden. Der Emperor fuhr keinen Sabbath mehr.

Dem Schotten, der zum ersten Mal den milderen Süden besucht, erscheint
daher London als ein "gottloses Nest", doch bald begnügt er sich, den
schottischen Sabbath mit Worten zu vertheidigen, während er hier mit in
den Apfel der Sünde beißt und ihn gar nicht sauer findet. Cabs, Omnibusse,
Themseboote und Eisenbahnen haben in London auch am Sonntag zu thun.
Des ersten Gottesdienstes halber darf zwischen 11 und 1 Uhr kein Zug abgehen,
aber mancher Zug flüchtet mit einer Menge von Weltkindern beladen. 10 oder
5 Minuten vor 11 aus dem Bahnhof hinaus nach den grünen Fluren, so
daß der Himmel auch um seine zwei Stunden betrogen wird.

Ueberall in englischen Parks und Gärten sieht die Natur grade so aus
wie in der Woche, und fast scheint es, daß sie kein Gewissen hat und keine



-) Durch die Mackenzie-Atte. Bekanntlich gibt es Parlamentsstatuten, die blos für Schott-
land, blos für Irland oder blos für England und Wales gelten. Wales ist, ungeachtet der
celtischen Stammeseigenthümlichkeit, Politisch vollständig in England aufgegangen.
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und gebe damit kein Aergerniß. Noch sind wir nicht im alten Jerusalem
angelangt, wie sehr auch die Stillen und Frommen uns dahin'zu steuern
suchen, und wir leben auch nicht im gelobten Lande der Schotten, auf dem
ein starker Abglanz altjüdischer Heiligkeit ruht. Nördlich von Tweed sind
durch Parlamentsacte*) die Wirthshäuser den ganzen Sabbath geschlossen. Es
geschieht trotzdem oder in Folge davon, daß mancher strenger Presbyterianer
schon Vormittags auf der Straße krumme Linien beschreibt. Im Zustande
spirituöser Verzückung tanzt er gleichsam vor einer unsichtbaren Bundeslade;
denn vorsorglich nimmt er jeden Sonnabend einen Tropfen der Tröstung
ins Haus, und da in der 24stündigen Sperre selbst das Ale-Krüglein der
Wittwe versiegen würde, Bier ohnehin leicht schal wird, läßt er sich ein paar
große Sonntagskannen bis an den Rand mit Whisky füllen. In den
schottischen Städten arbeitet kein Cad- (Droschken-) oder Omnibuspferd am
Sabbath. Ein weltlich gesinnter Speculant in Glasgow kam vor ungefähr
1.4 Jahren auf den Gedanken, billige Sonntagsfahrten mit seinem Dampf¬
boot Emperor auf dem Clyde zu unternehmen, und in der volkreichen
Fabrikstadt fanden sich schwache Christen genug, die der Versuchung nicht
widerstehen konnten, auf solche Art frische Luft zu schöpfen und die hübschen
Stromufer zu bewundern. Aber den Lustfahrern wurde an mehreren Punkten
das Landen verwehrt, und als sie in Glasgow wieder ausstiegen, empfing
sie ein Schnaps- und glaubenstrunkenes Heer streitbarer aller Weiber und
Männer mit frommen Flüchen, und suchte an ihnen die mosaische Operation
der Steinigung zu vollziehen. Bei solchen Drohungen blieb es nicht, sondern
ein Mann Gottes schlich sich im Dunkeln auf das freche Fahrzeug und bohrte
ein Loch in den Boden. Der Emperor fuhr keinen Sabbath mehr.

Dem Schotten, der zum ersten Mal den milderen Süden besucht, erscheint
daher London als ein „gottloses Nest", doch bald begnügt er sich, den
schottischen Sabbath mit Worten zu vertheidigen, während er hier mit in
den Apfel der Sünde beißt und ihn gar nicht sauer findet. Cabs, Omnibusse,
Themseboote und Eisenbahnen haben in London auch am Sonntag zu thun.
Des ersten Gottesdienstes halber darf zwischen 11 und 1 Uhr kein Zug abgehen,
aber mancher Zug flüchtet mit einer Menge von Weltkindern beladen. 10 oder
5 Minuten vor 11 aus dem Bahnhof hinaus nach den grünen Fluren, so
daß der Himmel auch um seine zwei Stunden betrogen wird.

Ueberall in englischen Parks und Gärten sieht die Natur grade so aus
wie in der Woche, und fast scheint es, daß sie kein Gewissen hat und keine



-) Durch die Mackenzie-Atte. Bekanntlich gibt es Parlamentsstatuten, die blos für Schott-
land, blos für Irland oder blos für England und Wales gelten. Wales ist, ungeachtet der
celtischen Stammeseigenthümlichkeit, Politisch vollständig in England aufgegangen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/483>, abgerufen am 02.10.2024.