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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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inneren Staatslebens in Deutschland heute auf dem Platze sind, das der
Selbstverwaltung und das der Freiheit, Das letztere Programm, welches
im Wesentlichen natürlich vom volkswirtschaftlichen Congreß bekannt wird,
hatte in der Person des Berichterstatters Prof. Böhmert das erste und das
das letzte Wort, Dafür aber wurde das erstere Programm von seinem
Bannerträger selbst vertreten, von Gneist. Das stellte die Partei, äußerlich
genommen, zu Gunsten der Selbstverwaltung mehr als her, Denn Gneist's
Name ist heutigentags eine Autorität selbst auf einem Congreß deutscher
Volkswirthe; während diese unter einander natürlich keine Autorität statuiren
können, da eine mindestens die andere aufwiegt. Außerdem fochten auf
Gneist's Seite H. B. Oppenheim, Ludwig Bamberger, O. Wolff, Alex.
Meyer, ja einigermaßen selbst Pfeiffer und Eras, während Böhmert nur von
Emminghaus und Rickert unterstützt wurde, und auch von diesen nicht ein¬
mal unbedingt.

Schon die Vorbereitungen zur Debatte waren nämlich unglücklich ab¬
gelaufen. Man hatte sich im engeren Kreise weidlich mit einer Compromiß-
resolution geplagt, da die ursprünglich eingebrachte von Böhmert, Emming¬
haus und Lammers selbst Gesinnungsgenossen zuviel Anstoß gab; aber jene
erwies sich schließlich als eine noch weit ausgemachtere Fehlgeburt. Es be¬
zeichnete die Unklarheit, in welcher selbst eingeweihte Köpfe sich gegenwärtig
meistens noch über die Probleme der Armenpflege befinden, daß die Antrag¬
steller gleichzeitig nach rechts und nach links hin wegen eines Ausgleichs
unterhandelten -- mit Solchen, die imGrunde-gar keine Armenpflege nöthig
erachten, am liebsten einen Gewaltstrich durch alle Ausübung von Barm¬
herzigkeit zögen, und mit Solchen, denen der bestehende Zustand in der
Hauptsache genehm ist, die nur hier und da an der herkömmlichen Mischung
von Zwangsarmenpflege und Pnvatwohlthätigkeit etwas abändern, aber bei
Leibe nicht zu freier Armenpflege übergehen wollen. Das Produkt derartiger
Transactionen konnte unmöglich eine praktisch brauchbare Formel sein. Es
war Gneist's leichteste Aufgabe, in ihm die inneren Widersprüche darzuthun.
Man mußte die Loyalität des Berichterstatters bewundern, der selbst im
Schlußwort, nachdem er die ganze Morschheit des betretenen Compromiß-
bodens kennen gelernt hatte, die vereinbarte Formel noch nicht kurzweg
hinter sich warf und zu irgend einer reinen Ausprägung seiner Idee zurück¬
kehrte, sondern an dem Werk so heterogener Factoren festhielt.

Worin besteht denn nun diese Idee, dieser Versuch kühner Neuerung?
Nicht eine philosophische Speculation oder theoretische Lectüre, sondern lang¬
jähriges Eindringen in factische Armenzustände und vergleichende Betrachtung
der bisher üblichen Armenpflege hat die Träger dieses Gedankens überzeugt,
daß das Unkraut der Massennoth mit den alten Mitteln nicht ausgerottet


inneren Staatslebens in Deutschland heute auf dem Platze sind, das der
Selbstverwaltung und das der Freiheit, Das letztere Programm, welches
im Wesentlichen natürlich vom volkswirtschaftlichen Congreß bekannt wird,
hatte in der Person des Berichterstatters Prof. Böhmert das erste und das
das letzte Wort, Dafür aber wurde das erstere Programm von seinem
Bannerträger selbst vertreten, von Gneist. Das stellte die Partei, äußerlich
genommen, zu Gunsten der Selbstverwaltung mehr als her, Denn Gneist's
Name ist heutigentags eine Autorität selbst auf einem Congreß deutscher
Volkswirthe; während diese unter einander natürlich keine Autorität statuiren
können, da eine mindestens die andere aufwiegt. Außerdem fochten auf
Gneist's Seite H. B. Oppenheim, Ludwig Bamberger, O. Wolff, Alex.
Meyer, ja einigermaßen selbst Pfeiffer und Eras, während Böhmert nur von
Emminghaus und Rickert unterstützt wurde, und auch von diesen nicht ein¬
mal unbedingt.

Schon die Vorbereitungen zur Debatte waren nämlich unglücklich ab¬
gelaufen. Man hatte sich im engeren Kreise weidlich mit einer Compromiß-
resolution geplagt, da die ursprünglich eingebrachte von Böhmert, Emming¬
haus und Lammers selbst Gesinnungsgenossen zuviel Anstoß gab; aber jene
erwies sich schließlich als eine noch weit ausgemachtere Fehlgeburt. Es be¬
zeichnete die Unklarheit, in welcher selbst eingeweihte Köpfe sich gegenwärtig
meistens noch über die Probleme der Armenpflege befinden, daß die Antrag¬
steller gleichzeitig nach rechts und nach links hin wegen eines Ausgleichs
unterhandelten — mit Solchen, die imGrunde-gar keine Armenpflege nöthig
erachten, am liebsten einen Gewaltstrich durch alle Ausübung von Barm¬
herzigkeit zögen, und mit Solchen, denen der bestehende Zustand in der
Hauptsache genehm ist, die nur hier und da an der herkömmlichen Mischung
von Zwangsarmenpflege und Pnvatwohlthätigkeit etwas abändern, aber bei
Leibe nicht zu freier Armenpflege übergehen wollen. Das Produkt derartiger
Transactionen konnte unmöglich eine praktisch brauchbare Formel sein. Es
war Gneist's leichteste Aufgabe, in ihm die inneren Widersprüche darzuthun.
Man mußte die Loyalität des Berichterstatters bewundern, der selbst im
Schlußwort, nachdem er die ganze Morschheit des betretenen Compromiß-
bodens kennen gelernt hatte, die vereinbarte Formel noch nicht kurzweg
hinter sich warf und zu irgend einer reinen Ausprägung seiner Idee zurück¬
kehrte, sondern an dem Werk so heterogener Factoren festhielt.

Worin besteht denn nun diese Idee, dieser Versuch kühner Neuerung?
Nicht eine philosophische Speculation oder theoretische Lectüre, sondern lang¬
jähriges Eindringen in factische Armenzustände und vergleichende Betrachtung
der bisher üblichen Armenpflege hat die Träger dieses Gedankens überzeugt,
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[0472] inneren Staatslebens in Deutschland heute auf dem Platze sind, das der Selbstverwaltung und das der Freiheit, Das letztere Programm, welches im Wesentlichen natürlich vom volkswirtschaftlichen Congreß bekannt wird, hatte in der Person des Berichterstatters Prof. Böhmert das erste und das das letzte Wort, Dafür aber wurde das erstere Programm von seinem Bannerträger selbst vertreten, von Gneist. Das stellte die Partei, äußerlich genommen, zu Gunsten der Selbstverwaltung mehr als her, Denn Gneist's Name ist heutigentags eine Autorität selbst auf einem Congreß deutscher Volkswirthe; während diese unter einander natürlich keine Autorität statuiren können, da eine mindestens die andere aufwiegt. Außerdem fochten auf Gneist's Seite H. B. Oppenheim, Ludwig Bamberger, O. Wolff, Alex. Meyer, ja einigermaßen selbst Pfeiffer und Eras, während Böhmert nur von Emminghaus und Rickert unterstützt wurde, und auch von diesen nicht ein¬ mal unbedingt. Schon die Vorbereitungen zur Debatte waren nämlich unglücklich ab¬ gelaufen. Man hatte sich im engeren Kreise weidlich mit einer Compromiß- resolution geplagt, da die ursprünglich eingebrachte von Böhmert, Emming¬ haus und Lammers selbst Gesinnungsgenossen zuviel Anstoß gab; aber jene erwies sich schließlich als eine noch weit ausgemachtere Fehlgeburt. Es be¬ zeichnete die Unklarheit, in welcher selbst eingeweihte Köpfe sich gegenwärtig meistens noch über die Probleme der Armenpflege befinden, daß die Antrag¬ steller gleichzeitig nach rechts und nach links hin wegen eines Ausgleichs unterhandelten — mit Solchen, die imGrunde-gar keine Armenpflege nöthig erachten, am liebsten einen Gewaltstrich durch alle Ausübung von Barm¬ herzigkeit zögen, und mit Solchen, denen der bestehende Zustand in der Hauptsache genehm ist, die nur hier und da an der herkömmlichen Mischung von Zwangsarmenpflege und Pnvatwohlthätigkeit etwas abändern, aber bei Leibe nicht zu freier Armenpflege übergehen wollen. Das Produkt derartiger Transactionen konnte unmöglich eine praktisch brauchbare Formel sein. Es war Gneist's leichteste Aufgabe, in ihm die inneren Widersprüche darzuthun. Man mußte die Loyalität des Berichterstatters bewundern, der selbst im Schlußwort, nachdem er die ganze Morschheit des betretenen Compromiß- bodens kennen gelernt hatte, die vereinbarte Formel noch nicht kurzweg hinter sich warf und zu irgend einer reinen Ausprägung seiner Idee zurück¬ kehrte, sondern an dem Werk so heterogener Factoren festhielt. Worin besteht denn nun diese Idee, dieser Versuch kühner Neuerung? Nicht eine philosophische Speculation oder theoretische Lectüre, sondern lang¬ jähriges Eindringen in factische Armenzustände und vergleichende Betrachtung der bisher üblichen Armenpflege hat die Träger dieses Gedankens überzeugt, daß das Unkraut der Massennoth mit den alten Mitteln nicht ausgerottet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/472>, abgerufen am 25.08.2024.