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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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werden kann. Sie glauben die Zwangsarmenpflege, zu welcher der Staat
durch seine Gesetzgebung die Gemeinden anhält und welche die Gemeinden auf
Grund ihres Besteuerungsrechts ausüben, in einem falschen Zirkel befangen
zu sehen, der sie niemals und nirgendwo ein nennenswerthes Stück Weges
vorwärts gelangen lasse. Daher meinen sie empfehlen zu müssen, daß man
mit diesem System vollständig breche; daß man den in des Menschen Brust
gepflanzten Trieb des Mitgefühls, der am Ende auch alle Hilfsgesetzgebung
und Gemeindefürsorge eingegeben hat, sich einmal völlig frei organisiren, die
erforderlichen Kräfte und Mittel selbstthätig in Bewegung setzen lasse und zu¬
sehe, ob nicht so bessere Ergebnisse zu gewinnen seien. Was von theilweiser
Annäherung an solche Freiwilligkeit der Armenpflege hier oder da bereits
besteht, finden sie ihrem Rathe nur günstig. Sollte derselbe aber wider alle
Wahrscheinlichkeit doch verkehrt sein, nun, so ist inzwischen ja weder der
Staat noch die Gemeinde verschwunden, und beide können jeden Augenblick
die Aufgabe wieder an sich nehmen, welche den unabhängigen Kräften der
Gesellschaft mißglückt ist. Glückte sie diesen aber, so wäre der verderbliche
Zwiespalt zwischen Zwangsarmenpflege und Privatwohlthätigkeit gehoben,
die Quelle der verschwenderisch - wüsten Almosenwirthschaft verstopft, und jede
kranke wirthschaftliche Existenz empfinge, was gerade sie zur Wiederherstellung
bedarf, statt daß jetzt in Bausch und Bogen Hunderte nach demselben rohen
Recept ans Leben oder Tod behandelt werden.

Wir denken, daß dies eine leidlich klare und umfassende Bezeichnung der
Idee freier Armenpflege ist, welche am 2. September zu Mainz eine Art
Niederlage erlitten hat, aber schwerlich eine definitive. Gneist nannte sie
etwas herausfordernd einen Traum; er schalt die Volkswirthe, daß sie über
freie Armenpflege philosophirten, während der norddeutsche Bund von ihnen
wissen wollte, wie er seine Zwangsarmenpflege am besten unificire und in
Einzelheiten reformire. und während es ihre eigentliche Pflicht und
Schuldigkeit wäre, sich für den preußischen Entwurf wegen des Unterstützungs¬
wohnsitzes auszusprechen. Ja, er schien andeuten zu wollen, diese Ventilirung
eines Zukunftsgedankens sei am Ende wohl nur eine Diversion, welche die
Senate der Hansestädte veranlaßt hätten, um sich in ihrem verzweifelten
Widerstand gegen den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes durch blos zwei¬
jährigen Aufenthalt ein wenig Last zu verschaffen. Daß das Organ der An¬
tragsteller, das "Bremer Handelsblatt", diesen Widerstand getheilt oder er-
muthigt hatte, wird er eben nicht erfahren haben. Im Allgemeinen aberwünscht
der beredte Prophet des Selfgovernment selbstverständlich nicht, daß dieser
Verwaltungsform zu Gunsten freier Vereine irgend etwas ohne Noth ent¬
zogen werde. Er sieht alle Schwächen freiwilliger Organisationen mit ver¬
schärften Auge; die unvermeidlichen Nachtheile des Gesetzeszwanges schlägt


Grenzboten III. 186V. SS

werden kann. Sie glauben die Zwangsarmenpflege, zu welcher der Staat
durch seine Gesetzgebung die Gemeinden anhält und welche die Gemeinden auf
Grund ihres Besteuerungsrechts ausüben, in einem falschen Zirkel befangen
zu sehen, der sie niemals und nirgendwo ein nennenswerthes Stück Weges
vorwärts gelangen lasse. Daher meinen sie empfehlen zu müssen, daß man
mit diesem System vollständig breche; daß man den in des Menschen Brust
gepflanzten Trieb des Mitgefühls, der am Ende auch alle Hilfsgesetzgebung
und Gemeindefürsorge eingegeben hat, sich einmal völlig frei organisiren, die
erforderlichen Kräfte und Mittel selbstthätig in Bewegung setzen lasse und zu¬
sehe, ob nicht so bessere Ergebnisse zu gewinnen seien. Was von theilweiser
Annäherung an solche Freiwilligkeit der Armenpflege hier oder da bereits
besteht, finden sie ihrem Rathe nur günstig. Sollte derselbe aber wider alle
Wahrscheinlichkeit doch verkehrt sein, nun, so ist inzwischen ja weder der
Staat noch die Gemeinde verschwunden, und beide können jeden Augenblick
die Aufgabe wieder an sich nehmen, welche den unabhängigen Kräften der
Gesellschaft mißglückt ist. Glückte sie diesen aber, so wäre der verderbliche
Zwiespalt zwischen Zwangsarmenpflege und Privatwohlthätigkeit gehoben,
die Quelle der verschwenderisch - wüsten Almosenwirthschaft verstopft, und jede
kranke wirthschaftliche Existenz empfinge, was gerade sie zur Wiederherstellung
bedarf, statt daß jetzt in Bausch und Bogen Hunderte nach demselben rohen
Recept ans Leben oder Tod behandelt werden.

Wir denken, daß dies eine leidlich klare und umfassende Bezeichnung der
Idee freier Armenpflege ist, welche am 2. September zu Mainz eine Art
Niederlage erlitten hat, aber schwerlich eine definitive. Gneist nannte sie
etwas herausfordernd einen Traum; er schalt die Volkswirthe, daß sie über
freie Armenpflege philosophirten, während der norddeutsche Bund von ihnen
wissen wollte, wie er seine Zwangsarmenpflege am besten unificire und in
Einzelheiten reformire. und während es ihre eigentliche Pflicht und
Schuldigkeit wäre, sich für den preußischen Entwurf wegen des Unterstützungs¬
wohnsitzes auszusprechen. Ja, er schien andeuten zu wollen, diese Ventilirung
eines Zukunftsgedankens sei am Ende wohl nur eine Diversion, welche die
Senate der Hansestädte veranlaßt hätten, um sich in ihrem verzweifelten
Widerstand gegen den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes durch blos zwei¬
jährigen Aufenthalt ein wenig Last zu verschaffen. Daß das Organ der An¬
tragsteller, das „Bremer Handelsblatt", diesen Widerstand getheilt oder er-
muthigt hatte, wird er eben nicht erfahren haben. Im Allgemeinen aberwünscht
der beredte Prophet des Selfgovernment selbstverständlich nicht, daß dieser
Verwaltungsform zu Gunsten freier Vereine irgend etwas ohne Noth ent¬
zogen werde. Er sieht alle Schwächen freiwilliger Organisationen mit ver¬
schärften Auge; die unvermeidlichen Nachtheile des Gesetzeszwanges schlägt


Grenzboten III. 186V. SS
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/473>, abgerufen am 25.08.2024.