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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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das Recht zugestehen, in seiner Mitte aufzutreten und mit abzustimmen, wenn
es ihnen beliebt? Auf seiner Spitze soll man in diesem Stücke, und nicht
blos in diesem, etwas conservativ und aristokratisch gesinnt sein.

Die Ersetzung Lettes durch Prince Smith als Vorsitzenden der ständigen
Deputation, der von Amts wegen den Congreß zu eröffnen hat, ist übrigens
zum Vortheil der stets bedrängten Zeit der Versammlung ausgeschlagen. In
den von Smith vermiedenen Fehler schien Braun zu verfallen, als er sein
observanzmäßiges Präsidentenamt mit einer Rede übernahm; aber es hatte ihn
wohl gereizt, daß gerade gegen ihn vor Allem und seinetwegen besonders auch
gegen den- Congreß gehetzt Worden war, und so hielt er es für Pflicht, neben
dem herkömmlichen Verzeichnis; der Erfolge, welche der Congreß schon davon
getragen, auch den Nachweis zu führen, daß derselbe niemals offen oder versteckt
politischen Parteizwecken gefröhnt habe. In Wahrheit, wäre dies je der Fall
gewesen, so würde die Wachsamkeit der benachtheiligten oder bedrohten Par¬
teien gewiß längst darauf aufmerksam gemacht haben. Eine Gesellschaft aber,
in deren Vorstand der Fortschrittsmann Schultze. Delitzsch, der National¬
liberale Braun, der Geheimrath Michaelis vom Bundeskanzleramt, und der
altconservativ-orthodoxe v. Behr zusammensitzen, sieht nicht sehr nach einem
Partei-Conclave aus. Wenn der süddeutsche Radicalismus in ihr allerdings
ebensowenig vertreten ist wie die Clericalen. so liegt das wohl an dem man¬
gelnden Geschmack dieser Herrschaften für volkswirthschaftliches Studium.
Ließen die Getreuen des Bischofs Ketteler sich doch nicht einmal durch ein
Thema wie die Armenpflege, und die Aussicht, für ihre Forderung freier
Armenpflege Bundesgenossen zu finden, wenn auch Bundesgenossen von
ganz verschiedener Tendenz, auf den für 3 Thlr. Cre. doch Jedermann zu¬
gänglichen Congreß locken! Sie werden am besten gewußt haben, warum
nicht; sie gehen gern sicher und vermeiden Glatteis. Aber das muß man
freilich mit Braun behaupten, daß es nicht die Schuld der Volkswirthschaft
oder des ihr gewidmeten deutschen Wandercongresses ist, wenn es Parteien
gibt, welche beiden systematisch fernbleiben. Ultramontane und Radicale
suchen die Volkswohlfahrt anderswo, als auf diesem geraden und offenen
Wege. Die einen lassen sie vom Himmel herunterfallen und die andern
prophezeien sie aus dem Kaffeesatz der Revolution.

Die Verhandlung über Armenpflege, welche der Grund war, der die
meisten außerordentlichen Theilnehmer herangezogen hatte, verlief eben des¬
wegen anders, als man sonst hätte erwarten müssen. Sie war keine bloße
Auseinandersetzung innerhalb derselben allgemeinen Weltanschauung, wobei
entweder die Entschiedeneren die Gemäßigteren fortgerissen oder diese jene
festgehalten hätten; es entwickelte sich vielmehr an dieser Frage der ganze
Gegensatz zwischen den beiden Fortschrittsprogrammen, welche hinsichtlich des


das Recht zugestehen, in seiner Mitte aufzutreten und mit abzustimmen, wenn
es ihnen beliebt? Auf seiner Spitze soll man in diesem Stücke, und nicht
blos in diesem, etwas conservativ und aristokratisch gesinnt sein.

Die Ersetzung Lettes durch Prince Smith als Vorsitzenden der ständigen
Deputation, der von Amts wegen den Congreß zu eröffnen hat, ist übrigens
zum Vortheil der stets bedrängten Zeit der Versammlung ausgeschlagen. In
den von Smith vermiedenen Fehler schien Braun zu verfallen, als er sein
observanzmäßiges Präsidentenamt mit einer Rede übernahm; aber es hatte ihn
wohl gereizt, daß gerade gegen ihn vor Allem und seinetwegen besonders auch
gegen den- Congreß gehetzt Worden war, und so hielt er es für Pflicht, neben
dem herkömmlichen Verzeichnis; der Erfolge, welche der Congreß schon davon
getragen, auch den Nachweis zu führen, daß derselbe niemals offen oder versteckt
politischen Parteizwecken gefröhnt habe. In Wahrheit, wäre dies je der Fall
gewesen, so würde die Wachsamkeit der benachtheiligten oder bedrohten Par¬
teien gewiß längst darauf aufmerksam gemacht haben. Eine Gesellschaft aber,
in deren Vorstand der Fortschrittsmann Schultze. Delitzsch, der National¬
liberale Braun, der Geheimrath Michaelis vom Bundeskanzleramt, und der
altconservativ-orthodoxe v. Behr zusammensitzen, sieht nicht sehr nach einem
Partei-Conclave aus. Wenn der süddeutsche Radicalismus in ihr allerdings
ebensowenig vertreten ist wie die Clericalen. so liegt das wohl an dem man¬
gelnden Geschmack dieser Herrschaften für volkswirthschaftliches Studium.
Ließen die Getreuen des Bischofs Ketteler sich doch nicht einmal durch ein
Thema wie die Armenpflege, und die Aussicht, für ihre Forderung freier
Armenpflege Bundesgenossen zu finden, wenn auch Bundesgenossen von
ganz verschiedener Tendenz, auf den für 3 Thlr. Cre. doch Jedermann zu¬
gänglichen Congreß locken! Sie werden am besten gewußt haben, warum
nicht; sie gehen gern sicher und vermeiden Glatteis. Aber das muß man
freilich mit Braun behaupten, daß es nicht die Schuld der Volkswirthschaft
oder des ihr gewidmeten deutschen Wandercongresses ist, wenn es Parteien
gibt, welche beiden systematisch fernbleiben. Ultramontane und Radicale
suchen die Volkswohlfahrt anderswo, als auf diesem geraden und offenen
Wege. Die einen lassen sie vom Himmel herunterfallen und die andern
prophezeien sie aus dem Kaffeesatz der Revolution.

Die Verhandlung über Armenpflege, welche der Grund war, der die
meisten außerordentlichen Theilnehmer herangezogen hatte, verlief eben des¬
wegen anders, als man sonst hätte erwarten müssen. Sie war keine bloße
Auseinandersetzung innerhalb derselben allgemeinen Weltanschauung, wobei
entweder die Entschiedeneren die Gemäßigteren fortgerissen oder diese jene
festgehalten hätten; es entwickelte sich vielmehr an dieser Frage der ganze
Gegensatz zwischen den beiden Fortschrittsprogrammen, welche hinsichtlich des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/471>, abgerufen am 02.10.2024.