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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Emporien, die längst entnationalifirt eine bunte Mischung von Völkern und
von Bekenntnissen in ihrem Schoße tragen und "jene verpesteten Schlupf¬
winkel der Seeleute, in denen das Christenthum Wunder thut." Denn "wie
der Socialismus unserer Tage, wie jede neue Idee, keimte das Christenthum
in dem, was man die Fäulniß der großen Städte nennen kann, die in der
That ost nur ein volleres und freieres Leben, eine größere Erweckung der
inneren Kräfte der Menschheit ist." Mit großer Gelehrsamkeit werden aus
den alten Schriftstellern und aus den neuesten Jnschriftenwerken die Elemente
zu diesen Culturbildern zusammengetragen, die in der That nicht außerhalb
der Aufgabe eines Biographen des Paulus liegen. Eine bis ins Einzelste
gehende Kenntniß der damaligen Zustände der römischen Welt kann für das
Verständniß jener folgereichen Missionen nur förderlich sein, und auf diesem
Gebiet erwirbt sich Renan wirklich ein Verdienst. Dagegen erscheint das viele
Detail überall dort überflüssiger, wo der Verf. es aus seiner eigenen Phantasie
schöpft; wenn er z. B. die Gemüthsbewegungen schildert, welche die Sendboten
bei dem Betreten dieses oder jenes Orts empfanden. Ueberhaupt weiß Renan
immer mehr, als in den Quellen steht. Gibt er doch z. B. eine seitenlange
Charakteristik von Lucas, dem Begleiter des Paulus, als ob ihm ganz neu-
entdeckte Quellen zu Gebote ständen. "Er hatte einen sanften, versöhnlichen
Geist, eine zarte sympathische Seele, einen bescheidenen nachgiebigen Charakter.
Paulus liebte ihn sehr, Lucas blieb seinerseits seinem Lehrer immer treu . .
Er liebte die römischen Officiere und hielt sie gern für tugendhaft" u. tgi. in.
-- Alles fo ziemlich reine Erfindung von Renan. Dahin gehört überhaupt
die Vorliebe, die Renan für die kleinen, meistens kaum genannten Mitglieder
des apostolischen Kreises zeigt. Aquila und Priscilla, Lydia und Phöbe
reizen fortwährend die Phantasie des Autors. Man sieht ihn ordentlich den
Zipfel des Vorhangs neugierig in die Höhe heben oder durch die Thür¬
spalte blicken, denn er möchte gar zu gerne wissen, was dahinter ist. Der
Leser möge selbst urtheilen. In der Apostelgeschichte ist erzählt, daß Paulus
zu Philippi eine Zeitlang bei einer frommen Lydierin wohnte, die mit Pur¬
pur handelte. Dies ist Alles. Aber diese "Lydia" und ihr Verhältniß zu
Paulus beschäftigt Renan in hohem Grade. Er schreibt folgende charakte¬
ristische Sätze: "Die vollkommene Reinheit der christlichen Sitten hielt jeden
Verdacht fern. Uebrigens ist die Vermuthung vielleicht nicht zu kühn, daß
Lydia es ist, die Paulus in seinem Briefe an die Philipper "meine liebe Ge.
nasum" anredet (!!); doch würde der Ausdruck, wenn man will, eine einfache
Metapher sein. Aber ist es ganz unmöglich, daß Paulus mit dieser Schwester
eine engere Verbindung geschlossen? Man möchte es nicht als bestimmt hin¬
stellen. Sicher ist nur, daß Paulus sie nicht als Schwester auf seine Reisen


Grenzboten III. 1869, 57

Emporien, die längst entnationalifirt eine bunte Mischung von Völkern und
von Bekenntnissen in ihrem Schoße tragen und „jene verpesteten Schlupf¬
winkel der Seeleute, in denen das Christenthum Wunder thut." Denn „wie
der Socialismus unserer Tage, wie jede neue Idee, keimte das Christenthum
in dem, was man die Fäulniß der großen Städte nennen kann, die in der
That ost nur ein volleres und freieres Leben, eine größere Erweckung der
inneren Kräfte der Menschheit ist." Mit großer Gelehrsamkeit werden aus
den alten Schriftstellern und aus den neuesten Jnschriftenwerken die Elemente
zu diesen Culturbildern zusammengetragen, die in der That nicht außerhalb
der Aufgabe eines Biographen des Paulus liegen. Eine bis ins Einzelste
gehende Kenntniß der damaligen Zustände der römischen Welt kann für das
Verständniß jener folgereichen Missionen nur förderlich sein, und auf diesem
Gebiet erwirbt sich Renan wirklich ein Verdienst. Dagegen erscheint das viele
Detail überall dort überflüssiger, wo der Verf. es aus seiner eigenen Phantasie
schöpft; wenn er z. B. die Gemüthsbewegungen schildert, welche die Sendboten
bei dem Betreten dieses oder jenes Orts empfanden. Ueberhaupt weiß Renan
immer mehr, als in den Quellen steht. Gibt er doch z. B. eine seitenlange
Charakteristik von Lucas, dem Begleiter des Paulus, als ob ihm ganz neu-
entdeckte Quellen zu Gebote ständen. „Er hatte einen sanften, versöhnlichen
Geist, eine zarte sympathische Seele, einen bescheidenen nachgiebigen Charakter.
Paulus liebte ihn sehr, Lucas blieb seinerseits seinem Lehrer immer treu . .
Er liebte die römischen Officiere und hielt sie gern für tugendhaft" u. tgi. in.
— Alles fo ziemlich reine Erfindung von Renan. Dahin gehört überhaupt
die Vorliebe, die Renan für die kleinen, meistens kaum genannten Mitglieder
des apostolischen Kreises zeigt. Aquila und Priscilla, Lydia und Phöbe
reizen fortwährend die Phantasie des Autors. Man sieht ihn ordentlich den
Zipfel des Vorhangs neugierig in die Höhe heben oder durch die Thür¬
spalte blicken, denn er möchte gar zu gerne wissen, was dahinter ist. Der
Leser möge selbst urtheilen. In der Apostelgeschichte ist erzählt, daß Paulus
zu Philippi eine Zeitlang bei einer frommen Lydierin wohnte, die mit Pur¬
pur handelte. Dies ist Alles. Aber diese „Lydia" und ihr Verhältniß zu
Paulus beschäftigt Renan in hohem Grade. Er schreibt folgende charakte¬
ristische Sätze: „Die vollkommene Reinheit der christlichen Sitten hielt jeden
Verdacht fern. Uebrigens ist die Vermuthung vielleicht nicht zu kühn, daß
Lydia es ist, die Paulus in seinem Briefe an die Philipper „meine liebe Ge.
nasum" anredet (!!); doch würde der Ausdruck, wenn man will, eine einfache
Metapher sein. Aber ist es ganz unmöglich, daß Paulus mit dieser Schwester
eine engere Verbindung geschlossen? Man möchte es nicht als bestimmt hin¬
stellen. Sicher ist nur, daß Paulus sie nicht als Schwester auf seine Reisen


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[0457] Emporien, die längst entnationalifirt eine bunte Mischung von Völkern und von Bekenntnissen in ihrem Schoße tragen und „jene verpesteten Schlupf¬ winkel der Seeleute, in denen das Christenthum Wunder thut." Denn „wie der Socialismus unserer Tage, wie jede neue Idee, keimte das Christenthum in dem, was man die Fäulniß der großen Städte nennen kann, die in der That ost nur ein volleres und freieres Leben, eine größere Erweckung der inneren Kräfte der Menschheit ist." Mit großer Gelehrsamkeit werden aus den alten Schriftstellern und aus den neuesten Jnschriftenwerken die Elemente zu diesen Culturbildern zusammengetragen, die in der That nicht außerhalb der Aufgabe eines Biographen des Paulus liegen. Eine bis ins Einzelste gehende Kenntniß der damaligen Zustände der römischen Welt kann für das Verständniß jener folgereichen Missionen nur förderlich sein, und auf diesem Gebiet erwirbt sich Renan wirklich ein Verdienst. Dagegen erscheint das viele Detail überall dort überflüssiger, wo der Verf. es aus seiner eigenen Phantasie schöpft; wenn er z. B. die Gemüthsbewegungen schildert, welche die Sendboten bei dem Betreten dieses oder jenes Orts empfanden. Ueberhaupt weiß Renan immer mehr, als in den Quellen steht. Gibt er doch z. B. eine seitenlange Charakteristik von Lucas, dem Begleiter des Paulus, als ob ihm ganz neu- entdeckte Quellen zu Gebote ständen. „Er hatte einen sanften, versöhnlichen Geist, eine zarte sympathische Seele, einen bescheidenen nachgiebigen Charakter. Paulus liebte ihn sehr, Lucas blieb seinerseits seinem Lehrer immer treu . . Er liebte die römischen Officiere und hielt sie gern für tugendhaft" u. tgi. in. — Alles fo ziemlich reine Erfindung von Renan. Dahin gehört überhaupt die Vorliebe, die Renan für die kleinen, meistens kaum genannten Mitglieder des apostolischen Kreises zeigt. Aquila und Priscilla, Lydia und Phöbe reizen fortwährend die Phantasie des Autors. Man sieht ihn ordentlich den Zipfel des Vorhangs neugierig in die Höhe heben oder durch die Thür¬ spalte blicken, denn er möchte gar zu gerne wissen, was dahinter ist. Der Leser möge selbst urtheilen. In der Apostelgeschichte ist erzählt, daß Paulus zu Philippi eine Zeitlang bei einer frommen Lydierin wohnte, die mit Pur¬ pur handelte. Dies ist Alles. Aber diese „Lydia" und ihr Verhältniß zu Paulus beschäftigt Renan in hohem Grade. Er schreibt folgende charakte¬ ristische Sätze: „Die vollkommene Reinheit der christlichen Sitten hielt jeden Verdacht fern. Uebrigens ist die Vermuthung vielleicht nicht zu kühn, daß Lydia es ist, die Paulus in seinem Briefe an die Philipper „meine liebe Ge. nasum" anredet (!!); doch würde der Ausdruck, wenn man will, eine einfache Metapher sein. Aber ist es ganz unmöglich, daß Paulus mit dieser Schwester eine engere Verbindung geschlossen? Man möchte es nicht als bestimmt hin¬ stellen. Sicher ist nur, daß Paulus sie nicht als Schwester auf seine Reisen Grenzboten III. 1869, 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/457>, abgerufen am 22.07.2024.