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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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dann wieder Bosheit und versteckter Sarcasmus -- das wechselt nur so mit
einander ab. Er zeigt demüthige Unterwürfigkeit, aber Eifersucht und Empfind¬
lichkeit find seine wesentlichen Charakterzüge. Seine Herrschsucht vermag Nie¬
manden neben sich zu dulden, und doch ist sein Leben von dem Grundsatz
beherrscht, daß über persönlichen Meinungen und Gefühlen die Liebe stehe.
Was soll man sich bei dieser Art der Charakteristik denken? Allerdings ist
Paulus eine überaus zusammengesetzte Natur. Aber es ist doch nicht so
schwer, auf seine Briefe gestützt sich die Grundzüge seiner Persönlichkeit zu
vergegenwärtigen. Entseelte ist das Bild doch hauptsächlich dadurch, daß
Züge dazu verwandt sind, die gefärbte Geschichtsquellen geliefert haben,
Quellen, in denen gerade die specifische Eigenart des Apostels sür bestimmte
Zwecke modificirt erscheint. Renan hat sich so das Gelingen eines Porträts
unmöglich gemacht, welches grade für sein künstlerisches Talent eine an¬
ziehende Aufgabe war.

Renans Stärke ist auch in diesem Bande die culturgeschichtliche Schil¬
derung oder, genauer gesagt, die geschichtliche Kleinmalerei. Unnachahmlich
ist seine Feder, wenn sie das Leben jener ersten Missionäre beschreibt, ihr
Reisen und ihre Fährlichkeiten, die Bedingungen ihrer Wirksamkeit und die
Zusammensetzung der ersten Gemeinden. Schön ist auch die Schilderung des
Moments, da das Christenthum, zum ersten Male nach der Ferne strebend,
sich dem offenen Meere anvertraut:

"Die Fröhlichkeit, die Jugendlichkeit, die diese evangelischen Irrfahrten
athmeten, waren etwas Neues, Originelles, Entzückendes. Die Apostel¬
geschichte, der Ausdruck dieses ersten Aufschwungs christlichen Bewußtseins,
ist ein Buch der Lust, des freudigen Feuers. Seit den Homerischen Gedich¬
ten hatte man kein Werk so voll von frischen Eindrücken gesehen. Eine
Morgenluft, ein Mceresduft, wenn ich so sagen darf, die dem Buche eine ge¬
wisse Frische und Stärke verleihen, durchhauchen das Ganze und machen es
zum ausgezeichneten Reisegefährten, zum auserwählten Brevier desjenigen,
der den alten Spuren an den Südmeeren folgt. Das war die zweite Dich¬
tung des Christenthums. Die erste hatten der See von Tiberias und die
Fischernachen geliefert, jetzt führt uns ein stärkerer Hauch, das Sehnen nach
entfernteren Ländern, auf das hohe Meer."

Einen großen Raum nehmen ferner die wohlausgeführten Landschüsts-
bilder ein; wohin der Fuß des Apostels dringt, überall sind wir Mitreisende.
Theils aus eigener Erinnerung, theils aus Reisewerken aller Art zeichnet
Renan die Oertlichkeiten, die Aussichten, die Eigenthümlichkeiten der Vege¬
tation. Und mit nicht minderer Sorgfalt sind die Zustände der Völker¬
schaften geschildert, durch welche der Apostel reist, vor Allem aber die großen
Städte, welche bald die Mittelpunkte des neuen Glaubens sind, jene großen


dann wieder Bosheit und versteckter Sarcasmus — das wechselt nur so mit
einander ab. Er zeigt demüthige Unterwürfigkeit, aber Eifersucht und Empfind¬
lichkeit find seine wesentlichen Charakterzüge. Seine Herrschsucht vermag Nie¬
manden neben sich zu dulden, und doch ist sein Leben von dem Grundsatz
beherrscht, daß über persönlichen Meinungen und Gefühlen die Liebe stehe.
Was soll man sich bei dieser Art der Charakteristik denken? Allerdings ist
Paulus eine überaus zusammengesetzte Natur. Aber es ist doch nicht so
schwer, auf seine Briefe gestützt sich die Grundzüge seiner Persönlichkeit zu
vergegenwärtigen. Entseelte ist das Bild doch hauptsächlich dadurch, daß
Züge dazu verwandt sind, die gefärbte Geschichtsquellen geliefert haben,
Quellen, in denen gerade die specifische Eigenart des Apostels sür bestimmte
Zwecke modificirt erscheint. Renan hat sich so das Gelingen eines Porträts
unmöglich gemacht, welches grade für sein künstlerisches Talent eine an¬
ziehende Aufgabe war.

Renans Stärke ist auch in diesem Bande die culturgeschichtliche Schil¬
derung oder, genauer gesagt, die geschichtliche Kleinmalerei. Unnachahmlich
ist seine Feder, wenn sie das Leben jener ersten Missionäre beschreibt, ihr
Reisen und ihre Fährlichkeiten, die Bedingungen ihrer Wirksamkeit und die
Zusammensetzung der ersten Gemeinden. Schön ist auch die Schilderung des
Moments, da das Christenthum, zum ersten Male nach der Ferne strebend,
sich dem offenen Meere anvertraut:

„Die Fröhlichkeit, die Jugendlichkeit, die diese evangelischen Irrfahrten
athmeten, waren etwas Neues, Originelles, Entzückendes. Die Apostel¬
geschichte, der Ausdruck dieses ersten Aufschwungs christlichen Bewußtseins,
ist ein Buch der Lust, des freudigen Feuers. Seit den Homerischen Gedich¬
ten hatte man kein Werk so voll von frischen Eindrücken gesehen. Eine
Morgenluft, ein Mceresduft, wenn ich so sagen darf, die dem Buche eine ge¬
wisse Frische und Stärke verleihen, durchhauchen das Ganze und machen es
zum ausgezeichneten Reisegefährten, zum auserwählten Brevier desjenigen,
der den alten Spuren an den Südmeeren folgt. Das war die zweite Dich¬
tung des Christenthums. Die erste hatten der See von Tiberias und die
Fischernachen geliefert, jetzt führt uns ein stärkerer Hauch, das Sehnen nach
entfernteren Ländern, auf das hohe Meer."

Einen großen Raum nehmen ferner die wohlausgeführten Landschüsts-
bilder ein; wohin der Fuß des Apostels dringt, überall sind wir Mitreisende.
Theils aus eigener Erinnerung, theils aus Reisewerken aller Art zeichnet
Renan die Oertlichkeiten, die Aussichten, die Eigenthümlichkeiten der Vege¬
tation. Und mit nicht minderer Sorgfalt sind die Zustände der Völker¬
schaften geschildert, durch welche der Apostel reist, vor Allem aber die großen
Städte, welche bald die Mittelpunkte des neuen Glaubens sind, jene großen


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[0456] dann wieder Bosheit und versteckter Sarcasmus — das wechselt nur so mit einander ab. Er zeigt demüthige Unterwürfigkeit, aber Eifersucht und Empfind¬ lichkeit find seine wesentlichen Charakterzüge. Seine Herrschsucht vermag Nie¬ manden neben sich zu dulden, und doch ist sein Leben von dem Grundsatz beherrscht, daß über persönlichen Meinungen und Gefühlen die Liebe stehe. Was soll man sich bei dieser Art der Charakteristik denken? Allerdings ist Paulus eine überaus zusammengesetzte Natur. Aber es ist doch nicht so schwer, auf seine Briefe gestützt sich die Grundzüge seiner Persönlichkeit zu vergegenwärtigen. Entseelte ist das Bild doch hauptsächlich dadurch, daß Züge dazu verwandt sind, die gefärbte Geschichtsquellen geliefert haben, Quellen, in denen gerade die specifische Eigenart des Apostels sür bestimmte Zwecke modificirt erscheint. Renan hat sich so das Gelingen eines Porträts unmöglich gemacht, welches grade für sein künstlerisches Talent eine an¬ ziehende Aufgabe war. Renans Stärke ist auch in diesem Bande die culturgeschichtliche Schil¬ derung oder, genauer gesagt, die geschichtliche Kleinmalerei. Unnachahmlich ist seine Feder, wenn sie das Leben jener ersten Missionäre beschreibt, ihr Reisen und ihre Fährlichkeiten, die Bedingungen ihrer Wirksamkeit und die Zusammensetzung der ersten Gemeinden. Schön ist auch die Schilderung des Moments, da das Christenthum, zum ersten Male nach der Ferne strebend, sich dem offenen Meere anvertraut: „Die Fröhlichkeit, die Jugendlichkeit, die diese evangelischen Irrfahrten athmeten, waren etwas Neues, Originelles, Entzückendes. Die Apostel¬ geschichte, der Ausdruck dieses ersten Aufschwungs christlichen Bewußtseins, ist ein Buch der Lust, des freudigen Feuers. Seit den Homerischen Gedich¬ ten hatte man kein Werk so voll von frischen Eindrücken gesehen. Eine Morgenluft, ein Mceresduft, wenn ich so sagen darf, die dem Buche eine ge¬ wisse Frische und Stärke verleihen, durchhauchen das Ganze und machen es zum ausgezeichneten Reisegefährten, zum auserwählten Brevier desjenigen, der den alten Spuren an den Südmeeren folgt. Das war die zweite Dich¬ tung des Christenthums. Die erste hatten der See von Tiberias und die Fischernachen geliefert, jetzt führt uns ein stärkerer Hauch, das Sehnen nach entfernteren Ländern, auf das hohe Meer." Einen großen Raum nehmen ferner die wohlausgeführten Landschüsts- bilder ein; wohin der Fuß des Apostels dringt, überall sind wir Mitreisende. Theils aus eigener Erinnerung, theils aus Reisewerken aller Art zeichnet Renan die Oertlichkeiten, die Aussichten, die Eigenthümlichkeiten der Vege¬ tation. Und mit nicht minderer Sorgfalt sind die Zustände der Völker¬ schaften geschildert, durch welche der Apostel reist, vor Allem aber die großen Städte, welche bald die Mittelpunkte des neuen Glaubens sind, jene großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/456>, abgerufen am 22.07.2024.