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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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unzweifelhaft ächte, deren apostolischer Ursprung noch nie in Frage gestellt
worden ist, dann unzweifelhaft falsche Briefe, endlich eine Anzahl bestrittener,
über welche die Acten noch nicht endgiltig geschlossen sind. Die ächten sind
der Brief an die Galater, die beiden an die Korinther und der an die Römer.
Die sicher unächten -- auch von Renan als solche anerkannt -- sind die
beiden Briefe an Timotheus und der an Titus, die sogenannten Pastoral¬
briefe. Was die sechs anderen Briefe betrifft, so versäumt Renan nicht, das
kritische Material seinen Lesern vorzulegen, Diese Briefe enthalten theils
vorgeschrittenere Lehrmeinungen, als sie sonst bei Paulus sich finden,
theils weisen sie auf eine festere kirchliche Organisation hin, als sie zu den
Zeiten des Apostels vorhanden war. Auch ihre Etnreihung in das Leben
des Paulus macht Mühe. Vor Allem aber haben sie nichts von dem per¬
sönlichen und gelegenheitlichen Charakter, der den vier Hauptbriefen eigen
ist; überhaupt vermißt man an ihnen das eigenthümliche Gepräge des pauli-
nischen Geistes. Es sind lehrhafte Episteln, die, nach der Ansicht der kriti¬
schen Schule, der nachapostolischen Zeit angehören, in welcher man bemüht
war, den durch das Auftreten des Paulus entstandenen Streitigkeiten die
Spitze abzubrechen, einer vermittelnden Meinung die Herrschaft in der Kirche
zu gewinnen, und in welcher man, wie dies nachweisbar ist, keinen Anstand
nahm, Schriften, die in dieser Absicht verfaßt waren, auf Apostelnamen zu¬
rückzuführen, um ihnen'dadurch ihre Wirkung in den Gemeinden zu sichern.
Renan erklärt sich nun nach Aufzählung aller Gegengründe doch für die
Aechtheit dieser Briefe, selbst des Epheserbriefs, bei welchem es ihn sichtliche
Mühe kostet, die kritischen Bedenken zu überwinden. Uebrigens ist zu be¬
merken, daß vom historischen Gesichtspunkt die Frage der Aechtheit dieser
sechs Briefe wirklich nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Gerade um
ihres vorherrschend lehrhaften Charakters willen, und weil sie so wenig Per¬
sönliches und eigenthümlich Paulinisches enthalten, sind sie in jedem Fall nur
ein secundärer Beitrag für die Biographie des Apostels, die in erster Linie
auf jene vier großen Briefe angewiesen ist. Der Biograph, der die kleineren
Briefe als ächt benutzt, gewinnt an ihnen nicht viel, wie umgekehrt der¬
jenige nichts Wesentliches verliert, der sie bei Seite liegen läßt.

Weit wichtiger ist die Frage nach den Grundsätzen, denen der Biograph
bei Benutzung der Apostelgeschichte folgt. Hier ist das Verfahren von Renan
ganz eigenthümlich. In der Theorie ist er ganz Kritiker, in der Praxis fällt
er immer wieder in die kirchliche Tradition zurück. Er beurtheilt die Com-
position der Apostelgeschichte ganz richtig, aber es ist ihm nicht möglich, sich
daraus eine feste Norm für seine Erzählung zu bilden. Indem er dem Buch
seine einzelnen Angaben nacherzählt, vergißt er immer wieder, was er selbst
über die Unglaubwürdigkeit und das Tendentiöse seiner ganzen Anlage ge-


unzweifelhaft ächte, deren apostolischer Ursprung noch nie in Frage gestellt
worden ist, dann unzweifelhaft falsche Briefe, endlich eine Anzahl bestrittener,
über welche die Acten noch nicht endgiltig geschlossen sind. Die ächten sind
der Brief an die Galater, die beiden an die Korinther und der an die Römer.
Die sicher unächten — auch von Renan als solche anerkannt — sind die
beiden Briefe an Timotheus und der an Titus, die sogenannten Pastoral¬
briefe. Was die sechs anderen Briefe betrifft, so versäumt Renan nicht, das
kritische Material seinen Lesern vorzulegen, Diese Briefe enthalten theils
vorgeschrittenere Lehrmeinungen, als sie sonst bei Paulus sich finden,
theils weisen sie auf eine festere kirchliche Organisation hin, als sie zu den
Zeiten des Apostels vorhanden war. Auch ihre Etnreihung in das Leben
des Paulus macht Mühe. Vor Allem aber haben sie nichts von dem per¬
sönlichen und gelegenheitlichen Charakter, der den vier Hauptbriefen eigen
ist; überhaupt vermißt man an ihnen das eigenthümliche Gepräge des pauli-
nischen Geistes. Es sind lehrhafte Episteln, die, nach der Ansicht der kriti¬
schen Schule, der nachapostolischen Zeit angehören, in welcher man bemüht
war, den durch das Auftreten des Paulus entstandenen Streitigkeiten die
Spitze abzubrechen, einer vermittelnden Meinung die Herrschaft in der Kirche
zu gewinnen, und in welcher man, wie dies nachweisbar ist, keinen Anstand
nahm, Schriften, die in dieser Absicht verfaßt waren, auf Apostelnamen zu¬
rückzuführen, um ihnen'dadurch ihre Wirkung in den Gemeinden zu sichern.
Renan erklärt sich nun nach Aufzählung aller Gegengründe doch für die
Aechtheit dieser Briefe, selbst des Epheserbriefs, bei welchem es ihn sichtliche
Mühe kostet, die kritischen Bedenken zu überwinden. Uebrigens ist zu be¬
merken, daß vom historischen Gesichtspunkt die Frage der Aechtheit dieser
sechs Briefe wirklich nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Gerade um
ihres vorherrschend lehrhaften Charakters willen, und weil sie so wenig Per¬
sönliches und eigenthümlich Paulinisches enthalten, sind sie in jedem Fall nur
ein secundärer Beitrag für die Biographie des Apostels, die in erster Linie
auf jene vier großen Briefe angewiesen ist. Der Biograph, der die kleineren
Briefe als ächt benutzt, gewinnt an ihnen nicht viel, wie umgekehrt der¬
jenige nichts Wesentliches verliert, der sie bei Seite liegen läßt.

Weit wichtiger ist die Frage nach den Grundsätzen, denen der Biograph
bei Benutzung der Apostelgeschichte folgt. Hier ist das Verfahren von Renan
ganz eigenthümlich. In der Theorie ist er ganz Kritiker, in der Praxis fällt
er immer wieder in die kirchliche Tradition zurück. Er beurtheilt die Com-
position der Apostelgeschichte ganz richtig, aber es ist ihm nicht möglich, sich
daraus eine feste Norm für seine Erzählung zu bilden. Indem er dem Buch
seine einzelnen Angaben nacherzählt, vergißt er immer wieder, was er selbst
über die Unglaubwürdigkeit und das Tendentiöse seiner ganzen Anlage ge-


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[0452] unzweifelhaft ächte, deren apostolischer Ursprung noch nie in Frage gestellt worden ist, dann unzweifelhaft falsche Briefe, endlich eine Anzahl bestrittener, über welche die Acten noch nicht endgiltig geschlossen sind. Die ächten sind der Brief an die Galater, die beiden an die Korinther und der an die Römer. Die sicher unächten — auch von Renan als solche anerkannt — sind die beiden Briefe an Timotheus und der an Titus, die sogenannten Pastoral¬ briefe. Was die sechs anderen Briefe betrifft, so versäumt Renan nicht, das kritische Material seinen Lesern vorzulegen, Diese Briefe enthalten theils vorgeschrittenere Lehrmeinungen, als sie sonst bei Paulus sich finden, theils weisen sie auf eine festere kirchliche Organisation hin, als sie zu den Zeiten des Apostels vorhanden war. Auch ihre Etnreihung in das Leben des Paulus macht Mühe. Vor Allem aber haben sie nichts von dem per¬ sönlichen und gelegenheitlichen Charakter, der den vier Hauptbriefen eigen ist; überhaupt vermißt man an ihnen das eigenthümliche Gepräge des pauli- nischen Geistes. Es sind lehrhafte Episteln, die, nach der Ansicht der kriti¬ schen Schule, der nachapostolischen Zeit angehören, in welcher man bemüht war, den durch das Auftreten des Paulus entstandenen Streitigkeiten die Spitze abzubrechen, einer vermittelnden Meinung die Herrschaft in der Kirche zu gewinnen, und in welcher man, wie dies nachweisbar ist, keinen Anstand nahm, Schriften, die in dieser Absicht verfaßt waren, auf Apostelnamen zu¬ rückzuführen, um ihnen'dadurch ihre Wirkung in den Gemeinden zu sichern. Renan erklärt sich nun nach Aufzählung aller Gegengründe doch für die Aechtheit dieser Briefe, selbst des Epheserbriefs, bei welchem es ihn sichtliche Mühe kostet, die kritischen Bedenken zu überwinden. Uebrigens ist zu be¬ merken, daß vom historischen Gesichtspunkt die Frage der Aechtheit dieser sechs Briefe wirklich nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Gerade um ihres vorherrschend lehrhaften Charakters willen, und weil sie so wenig Per¬ sönliches und eigenthümlich Paulinisches enthalten, sind sie in jedem Fall nur ein secundärer Beitrag für die Biographie des Apostels, die in erster Linie auf jene vier großen Briefe angewiesen ist. Der Biograph, der die kleineren Briefe als ächt benutzt, gewinnt an ihnen nicht viel, wie umgekehrt der¬ jenige nichts Wesentliches verliert, der sie bei Seite liegen läßt. Weit wichtiger ist die Frage nach den Grundsätzen, denen der Biograph bei Benutzung der Apostelgeschichte folgt. Hier ist das Verfahren von Renan ganz eigenthümlich. In der Theorie ist er ganz Kritiker, in der Praxis fällt er immer wieder in die kirchliche Tradition zurück. Er beurtheilt die Com- position der Apostelgeschichte ganz richtig, aber es ist ihm nicht möglich, sich daraus eine feste Norm für seine Erzählung zu bilden. Indem er dem Buch seine einzelnen Angaben nacherzählt, vergißt er immer wieder, was er selbst über die Unglaubwürdigkeit und das Tendentiöse seiner ganzen Anlage ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/452>, abgerufen am 24.08.2024.