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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Wissenschaft, die auf diesem Gebiet eine so große Umwälzung hervorgebracht
haben, und er ist nicht blos in die Probleme und Resultate eingeweiht,
sondern auch, was wichtiger ist, in die Methode der Forschung; er wieder¬
holt selbst vor seinen Lehren den kritischen Prozeß, in welchem Aechtheit. Zeit
der Auffassung, Motive u, s. w. der einzelnen Erzeugnisse der urchristlicher
Literatur geprüft werden. Aber merkwürdig, es fällt ihm gar nicht ein, die
Konsequenzen daraus zu ziehen. Oper er thut es das einemal, das andere-
mal nicht, und beidemal weiß man nicht recht warum. Es ist ihm genug,
wenn er, z. B. bei einer Schrift deren Aechtheit in Frage steht, alle Ein¬
wendungen der Kritik aufgeführt hat; wenn nur dies geschehen ist, so hat
die Wissenschaft ihre Pflicht gethan. Aber wer wird so unbillig sein, auf
diese Gründe hin eine Entscheidung zu verlangen? Wer kann gezwungen
werden, sich ihrem Gewicht zu unterwerfen? Ist es doch das Einfachste und kränkt
es doch Niemanden, wenn man erst der Kritik das Wort verstattet, um es
schließlich mit überlegenem Lächeln bei der traditionellen Ansicht bewenden zu
lassen? Renan erscheint hier wie ein liebenswürdiger, gutmüthiger Examina¬
tor, der, nachdem der Candidat herzlich schlecht bestanden, ihm in seines
Herzens Güte und in Gottes Namen schließlich doch eine gute Note ertheilt.
Oder man denke sich eine kunstgeschichtliche Streitfrage. Ein Gemälde trägt,
wer weiß seit wie lange, den Namen Raphael's. Nun finden sich Aktenstücke,
mit denen dieser Ursprung schwer in Einklang zu bringen ist. Man unter¬
sucht das Bild genauer und findet nun noch eine Reihe innerer Gründe,
welche überraschenderweise zusammenstimmend auf einen ganz andern Ursprung
weisen. Allein was thuts? Warum den Besitzer kränken? Das Bild heißt
einmal Raphael, warum soll es nicht ferner so heißen? Den interessirten
Eifer alter und neuer Apologeten kennt Renan freilich nicht. Es ist nicht
etwa so, daß auf der andern Seite nun auch für die Ansicht von der Aecht¬
heit der betreffenden Schrift gewichtige Gründe herbeigeschleppt würden, so
daß der Kritiker die Schaale zuletzt auf diese Seite sich neigen ließe. Keines¬
wegs, solche Gründe werden gar nicht zusammengetragen. Genug, daß die
Schrift seit bald zweitausend Jahren den Namen dieses oder jenes Apostels
an der Stirne trägt, warum sie dieses Schmucks berauben? Warum soll es
in Zukunft anders sein, wenn die Welt sich so lange dabei beruhigt hat?
Am Ende ist ja die Sache des vielen Streits nicht werth. Lassen wir also
dem Apostel die Schrift und sehen wir lieber zu, daß wir aus ihr sür eine
möglichst detaillirte Geschichtserzählung möglichst viel kleine Züge zusammen¬
tragen und geschickt verwenden. Auf solche Grundsätze wenigstens ist das
Verfahren Renan's durchgängig basirt.

Dreizehn Briefe befinden sich in unserer Sammlung neutestamentlicher
Schriften, welche sich selbst sür p-ulinisch ausgeben. Darunter befinden sich
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Wissenschaft, die auf diesem Gebiet eine so große Umwälzung hervorgebracht
haben, und er ist nicht blos in die Probleme und Resultate eingeweiht,
sondern auch, was wichtiger ist, in die Methode der Forschung; er wieder¬
holt selbst vor seinen Lehren den kritischen Prozeß, in welchem Aechtheit. Zeit
der Auffassung, Motive u, s. w. der einzelnen Erzeugnisse der urchristlicher
Literatur geprüft werden. Aber merkwürdig, es fällt ihm gar nicht ein, die
Konsequenzen daraus zu ziehen. Oper er thut es das einemal, das andere-
mal nicht, und beidemal weiß man nicht recht warum. Es ist ihm genug,
wenn er, z. B. bei einer Schrift deren Aechtheit in Frage steht, alle Ein¬
wendungen der Kritik aufgeführt hat; wenn nur dies geschehen ist, so hat
die Wissenschaft ihre Pflicht gethan. Aber wer wird so unbillig sein, auf
diese Gründe hin eine Entscheidung zu verlangen? Wer kann gezwungen
werden, sich ihrem Gewicht zu unterwerfen? Ist es doch das Einfachste und kränkt
es doch Niemanden, wenn man erst der Kritik das Wort verstattet, um es
schließlich mit überlegenem Lächeln bei der traditionellen Ansicht bewenden zu
lassen? Renan erscheint hier wie ein liebenswürdiger, gutmüthiger Examina¬
tor, der, nachdem der Candidat herzlich schlecht bestanden, ihm in seines
Herzens Güte und in Gottes Namen schließlich doch eine gute Note ertheilt.
Oder man denke sich eine kunstgeschichtliche Streitfrage. Ein Gemälde trägt,
wer weiß seit wie lange, den Namen Raphael's. Nun finden sich Aktenstücke,
mit denen dieser Ursprung schwer in Einklang zu bringen ist. Man unter¬
sucht das Bild genauer und findet nun noch eine Reihe innerer Gründe,
welche überraschenderweise zusammenstimmend auf einen ganz andern Ursprung
weisen. Allein was thuts? Warum den Besitzer kränken? Das Bild heißt
einmal Raphael, warum soll es nicht ferner so heißen? Den interessirten
Eifer alter und neuer Apologeten kennt Renan freilich nicht. Es ist nicht
etwa so, daß auf der andern Seite nun auch für die Ansicht von der Aecht¬
heit der betreffenden Schrift gewichtige Gründe herbeigeschleppt würden, so
daß der Kritiker die Schaale zuletzt auf diese Seite sich neigen ließe. Keines¬
wegs, solche Gründe werden gar nicht zusammengetragen. Genug, daß die
Schrift seit bald zweitausend Jahren den Namen dieses oder jenes Apostels
an der Stirne trägt, warum sie dieses Schmucks berauben? Warum soll es
in Zukunft anders sein, wenn die Welt sich so lange dabei beruhigt hat?
Am Ende ist ja die Sache des vielen Streits nicht werth. Lassen wir also
dem Apostel die Schrift und sehen wir lieber zu, daß wir aus ihr sür eine
möglichst detaillirte Geschichtserzählung möglichst viel kleine Züge zusammen¬
tragen und geschickt verwenden. Auf solche Grundsätze wenigstens ist das
Verfahren Renan's durchgängig basirt.

Dreizehn Briefe befinden sich in unserer Sammlung neutestamentlicher
Schriften, welche sich selbst sür p-ulinisch ausgeben. Darunter befinden sich
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[0451] Wissenschaft, die auf diesem Gebiet eine so große Umwälzung hervorgebracht haben, und er ist nicht blos in die Probleme und Resultate eingeweiht, sondern auch, was wichtiger ist, in die Methode der Forschung; er wieder¬ holt selbst vor seinen Lehren den kritischen Prozeß, in welchem Aechtheit. Zeit der Auffassung, Motive u, s. w. der einzelnen Erzeugnisse der urchristlicher Literatur geprüft werden. Aber merkwürdig, es fällt ihm gar nicht ein, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Oper er thut es das einemal, das andere- mal nicht, und beidemal weiß man nicht recht warum. Es ist ihm genug, wenn er, z. B. bei einer Schrift deren Aechtheit in Frage steht, alle Ein¬ wendungen der Kritik aufgeführt hat; wenn nur dies geschehen ist, so hat die Wissenschaft ihre Pflicht gethan. Aber wer wird so unbillig sein, auf diese Gründe hin eine Entscheidung zu verlangen? Wer kann gezwungen werden, sich ihrem Gewicht zu unterwerfen? Ist es doch das Einfachste und kränkt es doch Niemanden, wenn man erst der Kritik das Wort verstattet, um es schließlich mit überlegenem Lächeln bei der traditionellen Ansicht bewenden zu lassen? Renan erscheint hier wie ein liebenswürdiger, gutmüthiger Examina¬ tor, der, nachdem der Candidat herzlich schlecht bestanden, ihm in seines Herzens Güte und in Gottes Namen schließlich doch eine gute Note ertheilt. Oder man denke sich eine kunstgeschichtliche Streitfrage. Ein Gemälde trägt, wer weiß seit wie lange, den Namen Raphael's. Nun finden sich Aktenstücke, mit denen dieser Ursprung schwer in Einklang zu bringen ist. Man unter¬ sucht das Bild genauer und findet nun noch eine Reihe innerer Gründe, welche überraschenderweise zusammenstimmend auf einen ganz andern Ursprung weisen. Allein was thuts? Warum den Besitzer kränken? Das Bild heißt einmal Raphael, warum soll es nicht ferner so heißen? Den interessirten Eifer alter und neuer Apologeten kennt Renan freilich nicht. Es ist nicht etwa so, daß auf der andern Seite nun auch für die Ansicht von der Aecht¬ heit der betreffenden Schrift gewichtige Gründe herbeigeschleppt würden, so daß der Kritiker die Schaale zuletzt auf diese Seite sich neigen ließe. Keines¬ wegs, solche Gründe werden gar nicht zusammengetragen. Genug, daß die Schrift seit bald zweitausend Jahren den Namen dieses oder jenes Apostels an der Stirne trägt, warum sie dieses Schmucks berauben? Warum soll es in Zukunft anders sein, wenn die Welt sich so lange dabei beruhigt hat? Am Ende ist ja die Sache des vielen Streits nicht werth. Lassen wir also dem Apostel die Schrift und sehen wir lieber zu, daß wir aus ihr sür eine möglichst detaillirte Geschichtserzählung möglichst viel kleine Züge zusammen¬ tragen und geschickt verwenden. Auf solche Grundsätze wenigstens ist das Verfahren Renan's durchgängig basirt. Dreizehn Briefe befinden sich in unserer Sammlung neutestamentlicher Schriften, welche sich selbst sür p-ulinisch ausgeben. Darunter befinden sich * L6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/451>, abgerufen am 22.07.2024.