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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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geprägten Persönlichkeit, im Unterschied von allen andern Aposteln, deren
Leben sich völlig in die Sage verliert/ Eigenlich Legendarisches hat sich nur
weniges an seine Gestalt zu heften vermocht, so gewaltig und einschnei¬
dend war sein Wirken. Vor Allem aber sind uns eine Anzahl ächter Briefe
von ihm erhalten, welche über seine Persönlichkeit, über den Gang und In¬
halt seines Lebens die wichtigsten Aufschlüsse geben. Endlich ist gerade für
den in Frage stehenden Zeitraum die Apostelgeschichte eine werthvolle, ob¬
wohl mit Vorsicht zu gebrauchende, für einzelne Partien sogar eine authen¬
tische Quelle.

Freilich ganz glatt und lückenlos lassen sich diese sechzehn Jahre nicht
erzählen, -- wenn man nicht eben ein Renan ist. Ein gewissenhafter Er¬
zähler wird-da und dort auf Punkte stoßen, wo er sich mit einem ehrlichen
non liiMöt bescheiden muß, für ganze Zeiträume lassen die Quellen im Stich,
und nicht immer ist aus den verworrenen Berichten das wirklich Geschehene
oder auch nur das Wahrscheinliche wiederherzustellen. Will man sehen, zu
welchen Resultaten mit demselben Material die deutsche Wissenschaft gelangte,
so möge man A. Hausraths "der Apostel Paulus"") vergleichen, ein Buel,
das ungefähr auf denselben kritischen Prämissen beruht und gleichfalls nicht
eine gelehrte Untersuchung, sondern eine geschichtliche Erzählung ist. Und
doch wäre es ungerecht, wenn man Renan nach unseren strengeren Begriffen
Mangel an Gewissenhaftigkeit vorwerfen wollte. Der Maßstab, den wir an-
zulegen pflegen, paßt nicht, denn er ist ihm unverständlich. Renan ist eine
völlig naive Natur, er weiß es nicht anders, ihm ist es nun einmal Bedürf¬
niß, Alles zu harmonischen Geschichtsbildern auszugestalten, es darf kein un¬
gelöster Rest bleiben, und wo die Quellen das nicht erlauben, da hilft die
ordnende geschickt disponirende Hand des Autors, zuletzt seine Phantasie
nach. Das ist die Schwäche, aber auch die Stärke und der Reiz seiner Ge¬
schichtserzählung. Die Wirkung seines Lebens Jesu beruht darauf. An die
Stelle einer großen Lücke, welche die eigentliche Geschichte nie mehr aus-
füllen kann, setzte er ein geistvolles anziehendes Gemälde, willkürlich zwar
aber lebendig. In derselben Weise fährt er nun fort zu erzählen. Nur wird
die Wirkung bedeutend schwächer, das Verfahren bedenklicher werden, wenn
es, wie in der Geschichte des Paulus, auf einen Stoff angewandt wird, für
welchen ein ungleich größeres wirklich geschichtliches Material vorhanden ist,
das nur kritisch gesichtet werden darf, um die Darstellung auf allen Punkten
zu controliren.

Man weiß wie Renan mit den Quellen der Geschichte des Urchristen-
thums sich auseinandersetzt. Er kennt und schätzt die Arbeiten der deutschen



') Heidelberg, Fr. Wassermann, 1865.

geprägten Persönlichkeit, im Unterschied von allen andern Aposteln, deren
Leben sich völlig in die Sage verliert/ Eigenlich Legendarisches hat sich nur
weniges an seine Gestalt zu heften vermocht, so gewaltig und einschnei¬
dend war sein Wirken. Vor Allem aber sind uns eine Anzahl ächter Briefe
von ihm erhalten, welche über seine Persönlichkeit, über den Gang und In¬
halt seines Lebens die wichtigsten Aufschlüsse geben. Endlich ist gerade für
den in Frage stehenden Zeitraum die Apostelgeschichte eine werthvolle, ob¬
wohl mit Vorsicht zu gebrauchende, für einzelne Partien sogar eine authen¬
tische Quelle.

Freilich ganz glatt und lückenlos lassen sich diese sechzehn Jahre nicht
erzählen, — wenn man nicht eben ein Renan ist. Ein gewissenhafter Er¬
zähler wird-da und dort auf Punkte stoßen, wo er sich mit einem ehrlichen
non liiMöt bescheiden muß, für ganze Zeiträume lassen die Quellen im Stich,
und nicht immer ist aus den verworrenen Berichten das wirklich Geschehene
oder auch nur das Wahrscheinliche wiederherzustellen. Will man sehen, zu
welchen Resultaten mit demselben Material die deutsche Wissenschaft gelangte,
so möge man A. Hausraths „der Apostel Paulus"") vergleichen, ein Buel,
das ungefähr auf denselben kritischen Prämissen beruht und gleichfalls nicht
eine gelehrte Untersuchung, sondern eine geschichtliche Erzählung ist. Und
doch wäre es ungerecht, wenn man Renan nach unseren strengeren Begriffen
Mangel an Gewissenhaftigkeit vorwerfen wollte. Der Maßstab, den wir an-
zulegen pflegen, paßt nicht, denn er ist ihm unverständlich. Renan ist eine
völlig naive Natur, er weiß es nicht anders, ihm ist es nun einmal Bedürf¬
niß, Alles zu harmonischen Geschichtsbildern auszugestalten, es darf kein un¬
gelöster Rest bleiben, und wo die Quellen das nicht erlauben, da hilft die
ordnende geschickt disponirende Hand des Autors, zuletzt seine Phantasie
nach. Das ist die Schwäche, aber auch die Stärke und der Reiz seiner Ge¬
schichtserzählung. Die Wirkung seines Lebens Jesu beruht darauf. An die
Stelle einer großen Lücke, welche die eigentliche Geschichte nie mehr aus-
füllen kann, setzte er ein geistvolles anziehendes Gemälde, willkürlich zwar
aber lebendig. In derselben Weise fährt er nun fort zu erzählen. Nur wird
die Wirkung bedeutend schwächer, das Verfahren bedenklicher werden, wenn
es, wie in der Geschichte des Paulus, auf einen Stoff angewandt wird, für
welchen ein ungleich größeres wirklich geschichtliches Material vorhanden ist,
das nur kritisch gesichtet werden darf, um die Darstellung auf allen Punkten
zu controliren.

Man weiß wie Renan mit den Quellen der Geschichte des Urchristen-
thums sich auseinandersetzt. Er kennt und schätzt die Arbeiten der deutschen



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[0450] geprägten Persönlichkeit, im Unterschied von allen andern Aposteln, deren Leben sich völlig in die Sage verliert/ Eigenlich Legendarisches hat sich nur weniges an seine Gestalt zu heften vermocht, so gewaltig und einschnei¬ dend war sein Wirken. Vor Allem aber sind uns eine Anzahl ächter Briefe von ihm erhalten, welche über seine Persönlichkeit, über den Gang und In¬ halt seines Lebens die wichtigsten Aufschlüsse geben. Endlich ist gerade für den in Frage stehenden Zeitraum die Apostelgeschichte eine werthvolle, ob¬ wohl mit Vorsicht zu gebrauchende, für einzelne Partien sogar eine authen¬ tische Quelle. Freilich ganz glatt und lückenlos lassen sich diese sechzehn Jahre nicht erzählen, — wenn man nicht eben ein Renan ist. Ein gewissenhafter Er¬ zähler wird-da und dort auf Punkte stoßen, wo er sich mit einem ehrlichen non liiMöt bescheiden muß, für ganze Zeiträume lassen die Quellen im Stich, und nicht immer ist aus den verworrenen Berichten das wirklich Geschehene oder auch nur das Wahrscheinliche wiederherzustellen. Will man sehen, zu welchen Resultaten mit demselben Material die deutsche Wissenschaft gelangte, so möge man A. Hausraths „der Apostel Paulus"") vergleichen, ein Buel, das ungefähr auf denselben kritischen Prämissen beruht und gleichfalls nicht eine gelehrte Untersuchung, sondern eine geschichtliche Erzählung ist. Und doch wäre es ungerecht, wenn man Renan nach unseren strengeren Begriffen Mangel an Gewissenhaftigkeit vorwerfen wollte. Der Maßstab, den wir an- zulegen pflegen, paßt nicht, denn er ist ihm unverständlich. Renan ist eine völlig naive Natur, er weiß es nicht anders, ihm ist es nun einmal Bedürf¬ niß, Alles zu harmonischen Geschichtsbildern auszugestalten, es darf kein un¬ gelöster Rest bleiben, und wo die Quellen das nicht erlauben, da hilft die ordnende geschickt disponirende Hand des Autors, zuletzt seine Phantasie nach. Das ist die Schwäche, aber auch die Stärke und der Reiz seiner Ge¬ schichtserzählung. Die Wirkung seines Lebens Jesu beruht darauf. An die Stelle einer großen Lücke, welche die eigentliche Geschichte nie mehr aus- füllen kann, setzte er ein geistvolles anziehendes Gemälde, willkürlich zwar aber lebendig. In derselben Weise fährt er nun fort zu erzählen. Nur wird die Wirkung bedeutend schwächer, das Verfahren bedenklicher werden, wenn es, wie in der Geschichte des Paulus, auf einen Stoff angewandt wird, für welchen ein ungleich größeres wirklich geschichtliches Material vorhanden ist, das nur kritisch gesichtet werden darf, um die Darstellung auf allen Punkten zu controliren. Man weiß wie Renan mit den Quellen der Geschichte des Urchristen- thums sich auseinandersetzt. Er kennt und schätzt die Arbeiten der deutschen ') Heidelberg, Fr. Wassermann, 1865.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/450>, abgerufen am 22.07.2024.