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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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scheu Meer zum Aralsee gebaut ist, Oxus und Jaxartes russische Ströme gewor¬
den sind, Persien zu einer russischen Satrapie herabgesunken ist, und russische
Generale in Samarkand und Bochara herrschen, so wird die Sache sehr ernst,
denn zwischen Indien und dem russischen Einfluß liegt dann nur Afghanistan.
Durch diese gewaltige Machtstellung imponirt Rußland den Eingeborenen
Indiens so, daß dieselben die Möglichkeit ins Auge fassen, es könne einmal
an Englands Stelle treten. Ein wohlunterrichteter Officier aus dem indi¬
schen Dienste schreibt über diesen Punkt (?lis neutral ^flau Huestion trou
an Lastsrii Ltanäpoillt. I^onäon, Williams & MrMtö 1869): "Man darf
nicht glauben, daß Loyalität im europäischen Sinne bei I. M. Unterthanen
in Indien existire; sie mögen die englische Herrschaft einer anderen Fremd¬
herrschaft vorziehen, aber niemals eine europäische Regierung überhaupt einer
einheimischen. Ein sehr unterrichteter Jndier sagte mir, seine Landsleute
sähen sehr wohl ein, daß keine indische oder asiatische Macht im Stande sei,
die Oberherrschaft in Indien und auf diese Weise Frieden und gute Ord¬
nung zu erhalten. Sie seien demgemäß auch ganz zufrieden, in ihrer jetzigen
Lage, so lange sie gut behandelt würden, zu bleiben. Aber sie würden nicht
mehr zufrieden sein oder irgend welchen Glauben und Vertrauen an den Be¬
stand der britischen Herrschaft in Indien haben, wenn sie glauben müßten,
daß irgend eine andere europäische Macht stärker sei als England. Niemand,
der nicht lange in Indien gelebt und sich nicht mit den geheimen Gedanken
der Einheimischen vertraut gemacht habe, werde den Verlust an moralischem
Einfluß ermessen können, welchen der unglückliche Feldzug gegen Afghanistan im
Orient überhaupt für England gehabt. Damals zuerst seien die Jndier
stutzig geworden, von da datirten die Ideen, welche unter dem Einfluß lang¬
jähriger Mißregierung zum Aufstand von 18S7 geführt hätten." --

In dieser Richtung haben die russischen Eroberungen unzweifelhaft
ernste und drohende Bedeutung für Englands indische Interessen. Die Stel¬
lung Rußlands wird die Eingeborenen in steter Unruhe halten, indem sie
auf dasselbe als einen möglichen Eroberer und Regenten Hinblicken. Diese
Unruhe würde noch vermehrt werden, durch die wechselnden Chancen der
Kämpfe der Grenzstämme, so daß England in den Fall kommen könnte, ein
großes europäisches Heer in Indien zur Ueberwachung der einheimischen
Truppen zu halten. Gegenwärtig zählt die anglo-indische Armee 65,000 Euro¬
päer und 135,000 Eingeborene. Diese 200,000 Mann sind über ein Reich
von 300,000 deutschen Quadratmeilen verstreut, sollen einheimische Fürsten
überwachen, die selbst bedeutende Corps halten und eine Grenze von nahezu
1000 Meilen schützen, an deren Nordwesten regellose Stämme leben, welche
eine große Anzahl waffenfähiger Männer stellen können. Sollte England


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scheu Meer zum Aralsee gebaut ist, Oxus und Jaxartes russische Ströme gewor¬
den sind, Persien zu einer russischen Satrapie herabgesunken ist, und russische
Generale in Samarkand und Bochara herrschen, so wird die Sache sehr ernst,
denn zwischen Indien und dem russischen Einfluß liegt dann nur Afghanistan.
Durch diese gewaltige Machtstellung imponirt Rußland den Eingeborenen
Indiens so, daß dieselben die Möglichkeit ins Auge fassen, es könne einmal
an Englands Stelle treten. Ein wohlunterrichteter Officier aus dem indi¬
schen Dienste schreibt über diesen Punkt (?lis neutral ^flau Huestion trou
an Lastsrii Ltanäpoillt. I^onäon, Williams & MrMtö 1869): „Man darf
nicht glauben, daß Loyalität im europäischen Sinne bei I. M. Unterthanen
in Indien existire; sie mögen die englische Herrschaft einer anderen Fremd¬
herrschaft vorziehen, aber niemals eine europäische Regierung überhaupt einer
einheimischen. Ein sehr unterrichteter Jndier sagte mir, seine Landsleute
sähen sehr wohl ein, daß keine indische oder asiatische Macht im Stande sei,
die Oberherrschaft in Indien und auf diese Weise Frieden und gute Ord¬
nung zu erhalten. Sie seien demgemäß auch ganz zufrieden, in ihrer jetzigen
Lage, so lange sie gut behandelt würden, zu bleiben. Aber sie würden nicht
mehr zufrieden sein oder irgend welchen Glauben und Vertrauen an den Be¬
stand der britischen Herrschaft in Indien haben, wenn sie glauben müßten,
daß irgend eine andere europäische Macht stärker sei als England. Niemand,
der nicht lange in Indien gelebt und sich nicht mit den geheimen Gedanken
der Einheimischen vertraut gemacht habe, werde den Verlust an moralischem
Einfluß ermessen können, welchen der unglückliche Feldzug gegen Afghanistan im
Orient überhaupt für England gehabt. Damals zuerst seien die Jndier
stutzig geworden, von da datirten die Ideen, welche unter dem Einfluß lang¬
jähriger Mißregierung zum Aufstand von 18S7 geführt hätten." —

In dieser Richtung haben die russischen Eroberungen unzweifelhaft
ernste und drohende Bedeutung für Englands indische Interessen. Die Stel¬
lung Rußlands wird die Eingeborenen in steter Unruhe halten, indem sie
auf dasselbe als einen möglichen Eroberer und Regenten Hinblicken. Diese
Unruhe würde noch vermehrt werden, durch die wechselnden Chancen der
Kämpfe der Grenzstämme, so daß England in den Fall kommen könnte, ein
großes europäisches Heer in Indien zur Ueberwachung der einheimischen
Truppen zu halten. Gegenwärtig zählt die anglo-indische Armee 65,000 Euro¬
päer und 135,000 Eingeborene. Diese 200,000 Mann sind über ein Reich
von 300,000 deutschen Quadratmeilen verstreut, sollen einheimische Fürsten
überwachen, die selbst bedeutende Corps halten und eine Grenze von nahezu
1000 Meilen schützen, an deren Nordwesten regellose Stämme leben, welche
eine große Anzahl waffenfähiger Männer stellen können. Sollte England


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[0411] scheu Meer zum Aralsee gebaut ist, Oxus und Jaxartes russische Ströme gewor¬ den sind, Persien zu einer russischen Satrapie herabgesunken ist, und russische Generale in Samarkand und Bochara herrschen, so wird die Sache sehr ernst, denn zwischen Indien und dem russischen Einfluß liegt dann nur Afghanistan. Durch diese gewaltige Machtstellung imponirt Rußland den Eingeborenen Indiens so, daß dieselben die Möglichkeit ins Auge fassen, es könne einmal an Englands Stelle treten. Ein wohlunterrichteter Officier aus dem indi¬ schen Dienste schreibt über diesen Punkt (?lis neutral ^flau Huestion trou an Lastsrii Ltanäpoillt. I^onäon, Williams & MrMtö 1869): „Man darf nicht glauben, daß Loyalität im europäischen Sinne bei I. M. Unterthanen in Indien existire; sie mögen die englische Herrschaft einer anderen Fremd¬ herrschaft vorziehen, aber niemals eine europäische Regierung überhaupt einer einheimischen. Ein sehr unterrichteter Jndier sagte mir, seine Landsleute sähen sehr wohl ein, daß keine indische oder asiatische Macht im Stande sei, die Oberherrschaft in Indien und auf diese Weise Frieden und gute Ord¬ nung zu erhalten. Sie seien demgemäß auch ganz zufrieden, in ihrer jetzigen Lage, so lange sie gut behandelt würden, zu bleiben. Aber sie würden nicht mehr zufrieden sein oder irgend welchen Glauben und Vertrauen an den Be¬ stand der britischen Herrschaft in Indien haben, wenn sie glauben müßten, daß irgend eine andere europäische Macht stärker sei als England. Niemand, der nicht lange in Indien gelebt und sich nicht mit den geheimen Gedanken der Einheimischen vertraut gemacht habe, werde den Verlust an moralischem Einfluß ermessen können, welchen der unglückliche Feldzug gegen Afghanistan im Orient überhaupt für England gehabt. Damals zuerst seien die Jndier stutzig geworden, von da datirten die Ideen, welche unter dem Einfluß lang¬ jähriger Mißregierung zum Aufstand von 18S7 geführt hätten." — In dieser Richtung haben die russischen Eroberungen unzweifelhaft ernste und drohende Bedeutung für Englands indische Interessen. Die Stel¬ lung Rußlands wird die Eingeborenen in steter Unruhe halten, indem sie auf dasselbe als einen möglichen Eroberer und Regenten Hinblicken. Diese Unruhe würde noch vermehrt werden, durch die wechselnden Chancen der Kämpfe der Grenzstämme, so daß England in den Fall kommen könnte, ein großes europäisches Heer in Indien zur Ueberwachung der einheimischen Truppen zu halten. Gegenwärtig zählt die anglo-indische Armee 65,000 Euro¬ päer und 135,000 Eingeborene. Diese 200,000 Mann sind über ein Reich von 300,000 deutschen Quadratmeilen verstreut, sollen einheimische Fürsten überwachen, die selbst bedeutende Corps halten und eine Grenze von nahezu 1000 Meilen schützen, an deren Nordwesten regellose Stämme leben, welche eine große Anzahl waffenfähiger Männer stellen können. Sollte England S1*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/411>, abgerufen am 01.07.2024.