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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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noch weiter ausdehnen sollten; es sei wohl nur eine Zeitfrage, daß Rußland
sein bisheriges Prohibitivsystem aufgebe und mit der Einführung des Frei¬
handels könne der indische Handel in Centralasien einen ungeahnten Auf¬
schwung nehmen. Außerdem trenne noch ein weiter Zwischenraum die Sphäre
des russischen Einflusses von Indien. Es werde noch lange dauern, bis die
Eroberungen in Mittelasien dem russischen Reiche einigermaßen assimilirt
seien, und der Krimmkrieg habe gezeigt, wie schwer es sei, nach entlegenen
Punkten Streitkräfte zu dirigiren, wenn keine Eisenbahnen vorhanden seien.
Für eine Kriegführung komme aber außerdem nicht einmal so sehr die Kopfzahl
der Armeen als die Beschaffung des nöthigen Kriegsbedarfs und Proviants
in Betracht und in Betreff beider werde Rußland unter allen Umständen
auf seine europäische Reichshälfte angewiesen sein, während England sich aus
seinen nahegelegenen indischen Hilfsquellen in reichlichem Maße verprovian-
tiren könne.

Diese Auffassung scheint uns stark optimistisch; allerdings ist es vollkom¬
men begründet, daß England für Indien schwerlich einen direcien Angriff
von Nordosten zu fürchten hat, weil Rußland aus den von Grant Duff an¬
geführten Gründen dazu nicht schreiten wird: seine Deduktion von der Un-
gefährlichkeit des russischen Vorgehens überhaupt wurzelt aber in einem Irr¬
thum über die Richtung der russischen Eroberungspläne. Diese aber geht
nicht gegen Südosten auf Indien, sondern gegen Südwesten gegen die asia¬
tische Türkei. Rußland, durch den Pariser Frieden an einem Angriff auf das
türkische Reich gehindert, fucht seine Pläne in doppelter Weise zu verfolgen, ein¬
mal, indem es die Völkerschaften, die unter ottomanischer Herrschaft stehen, zum
Aufstände anstachelt, andererseits indem es schwache Nachbarstaaten der Türkei,
wie Griechenland und Persien, zu fortwährenden Provocationen und Grenz¬
verletzungen aufreizt. Es hat deshalb bet den Verhandlungen des Pariser
Friedens weislich abgelehnt, eine Garantie für die Integrität der Türkei zu
übernehmen, indem es darauf hinwies, daß es sich nicht verbindlich machen
könne, das Gebiet der Pforte z. B. gegen Persien zu vertheidigen. Graf
Orloff wußte wohl, weshalb er sich weigerte, denn Persien ist für Rußland
das Mittel, an den indischen Ocean zu kommen, es ist schon jetzt ganz in
den Händen Rußlands, und hat letzteres einmal am Meere festen Fuß gefaßt,
gründet es dort eine Flotte, so ist ihm auch die Euphratmündung preis¬
gegeben, über welche die Karawanenstraße nach Indien geht.

Von diesem Gesichtspunkt stellt sich die Sache ganz anders. Kein russischer
Staatsmann denkt daran, mit einer Operationsbasis am Kaspischen Meere
und dazwischen liegenden weiten Steppen, die im Besitz feindlicher und krie¬
gerischer Stämme sind, einen Angriff auf die Grenzen Indiens zu unter¬
nehmen. Aber wenn der Kaukasus unterworfen, eine Eisenbahn vom Kaspi-


noch weiter ausdehnen sollten; es sei wohl nur eine Zeitfrage, daß Rußland
sein bisheriges Prohibitivsystem aufgebe und mit der Einführung des Frei¬
handels könne der indische Handel in Centralasien einen ungeahnten Auf¬
schwung nehmen. Außerdem trenne noch ein weiter Zwischenraum die Sphäre
des russischen Einflusses von Indien. Es werde noch lange dauern, bis die
Eroberungen in Mittelasien dem russischen Reiche einigermaßen assimilirt
seien, und der Krimmkrieg habe gezeigt, wie schwer es sei, nach entlegenen
Punkten Streitkräfte zu dirigiren, wenn keine Eisenbahnen vorhanden seien.
Für eine Kriegführung komme aber außerdem nicht einmal so sehr die Kopfzahl
der Armeen als die Beschaffung des nöthigen Kriegsbedarfs und Proviants
in Betracht und in Betreff beider werde Rußland unter allen Umständen
auf seine europäische Reichshälfte angewiesen sein, während England sich aus
seinen nahegelegenen indischen Hilfsquellen in reichlichem Maße verprovian-
tiren könne.

Diese Auffassung scheint uns stark optimistisch; allerdings ist es vollkom¬
men begründet, daß England für Indien schwerlich einen direcien Angriff
von Nordosten zu fürchten hat, weil Rußland aus den von Grant Duff an¬
geführten Gründen dazu nicht schreiten wird: seine Deduktion von der Un-
gefährlichkeit des russischen Vorgehens überhaupt wurzelt aber in einem Irr¬
thum über die Richtung der russischen Eroberungspläne. Diese aber geht
nicht gegen Südosten auf Indien, sondern gegen Südwesten gegen die asia¬
tische Türkei. Rußland, durch den Pariser Frieden an einem Angriff auf das
türkische Reich gehindert, fucht seine Pläne in doppelter Weise zu verfolgen, ein¬
mal, indem es die Völkerschaften, die unter ottomanischer Herrschaft stehen, zum
Aufstände anstachelt, andererseits indem es schwache Nachbarstaaten der Türkei,
wie Griechenland und Persien, zu fortwährenden Provocationen und Grenz¬
verletzungen aufreizt. Es hat deshalb bet den Verhandlungen des Pariser
Friedens weislich abgelehnt, eine Garantie für die Integrität der Türkei zu
übernehmen, indem es darauf hinwies, daß es sich nicht verbindlich machen
könne, das Gebiet der Pforte z. B. gegen Persien zu vertheidigen. Graf
Orloff wußte wohl, weshalb er sich weigerte, denn Persien ist für Rußland
das Mittel, an den indischen Ocean zu kommen, es ist schon jetzt ganz in
den Händen Rußlands, und hat letzteres einmal am Meere festen Fuß gefaßt,
gründet es dort eine Flotte, so ist ihm auch die Euphratmündung preis¬
gegeben, über welche die Karawanenstraße nach Indien geht.

Von diesem Gesichtspunkt stellt sich die Sache ganz anders. Kein russischer
Staatsmann denkt daran, mit einer Operationsbasis am Kaspischen Meere
und dazwischen liegenden weiten Steppen, die im Besitz feindlicher und krie¬
gerischer Stämme sind, einen Angriff auf die Grenzen Indiens zu unter¬
nehmen. Aber wenn der Kaukasus unterworfen, eine Eisenbahn vom Kaspi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/410>, abgerufen am 28.06.2024.