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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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sein europäisches Heer so vermehren, daß es die einheimischen Truppen im
Zaume halten könnte, so würden die Kosten unerschwinglich sein.

Der Gesichtspunkt Rußlands ist wenigstens für die nächste Zukunft also
nicht Eroberung Indiens, sondern der, auf England durch indirekten Ein¬
fluß einen solchen Druck auszuüben, daß es sich russischem Vordringen nicht
widersetzen kann, ohne es zum Bruch zu treiben. Dies Vorgehen in Central-
afien ist eben nur ein Zug in dem großen Spiel gegen die Türkei; wenn
England in Indien und durch Amerika in Canada mattgesctzt ist, so hat
Constantinopel nur den papiernen Schutz des Pariser Friedensvertrags.

Die Frage ist, was soll England in dieser Conjunctur thun? Es heißt,
es müsse seine Stellung in Indien stärken, aber wie? --

Als das mindeste Erforderniß für die Sicherung der indischen Grenze
wird allgemein die Unabhängigkeit Afghanistans bezeichnet. Aber wie soll
dieselbe gesichert werden? Man hat dies auf diplomatischem Wege zu thun
versucht, indem man in Petersburg hat erklären lassen, man sehe auf die Be¬
festigung und Erweiterung der russischen Herrschaft in Kleinasten ohne Eifer¬
sucht, lege aber den höchsten Werth darauf, daß Afghanistans Unabhängigkeit
gewahrt bleibe. Rußland hat sich beeilt, zu versichern, daß es nicht daran
denke, diese Unabhängigkeit anzutasten, vielmehr Afghanistan als neutrales
Gebiet betrachte, und diese Antwort ist nach Gladstone's Erklärung mit leb¬
hafter Befriedigung entgegengenommen worden. Man kann indeß kaum glauben,
daß das englische Cabinet auf derartige Versicherungen ernstlichen Werth
lege, wenigstens würde die Geschichte der successiven Einverleibung Polens
ein bedeutsames vsstigm terrens dagegen geltend machen, um so mehr, als
die Grenzen Afghanistans sehr wenig bestimmt sind, also keine Demar¬
kationslinie herzustellen ist.

Sodann hat der neue Vicekönig, Lord Mayo, mit dem Emir von Afgha¬
nistan, Shir Ali, einen Subfidienvertrag abgeschlossen, durch welchen dem¬
selben jährlich 120,000 L. zugesichert werden. Eine solche Summe ist aller¬
dings von großer Bedeutung für den Häuptling eines armen und von
Parteiungen zerrissenen Landes, ob aber damit die Fehler der vergangenen
Politik Englands gut zu machen sind, ist zweifelhaft; daß diese Fehler aber
auch nach der unglücklichen Expedition von 1839 zahlreich sind, ist nicht
zweifelhaft. Man machte einen Vertrag mit Dose Mohammed, durch den
man ihn und seine Erben als Herren des Landes anerkannte. Als aber ein
Bürgerkrieg ausbrach und der Emir in Schwierigkeiten kam, lehnte man
ab, ihm zu helfen. Diese Politik der Nichtintervcntion ward indeß nicht ein¬
mal eingehalten, sondern als der Gegner der Familie. Afzul Khan, die Ober-
Hand zu erhalten schien, und dann Cabul und Candahar in seine Hand fielen
und dieser Nebenbuhler Anerkennung vom Vicekönig forderte, antwortete


sein europäisches Heer so vermehren, daß es die einheimischen Truppen im
Zaume halten könnte, so würden die Kosten unerschwinglich sein.

Der Gesichtspunkt Rußlands ist wenigstens für die nächste Zukunft also
nicht Eroberung Indiens, sondern der, auf England durch indirekten Ein¬
fluß einen solchen Druck auszuüben, daß es sich russischem Vordringen nicht
widersetzen kann, ohne es zum Bruch zu treiben. Dies Vorgehen in Central-
afien ist eben nur ein Zug in dem großen Spiel gegen die Türkei; wenn
England in Indien und durch Amerika in Canada mattgesctzt ist, so hat
Constantinopel nur den papiernen Schutz des Pariser Friedensvertrags.

Die Frage ist, was soll England in dieser Conjunctur thun? Es heißt,
es müsse seine Stellung in Indien stärken, aber wie? —

Als das mindeste Erforderniß für die Sicherung der indischen Grenze
wird allgemein die Unabhängigkeit Afghanistans bezeichnet. Aber wie soll
dieselbe gesichert werden? Man hat dies auf diplomatischem Wege zu thun
versucht, indem man in Petersburg hat erklären lassen, man sehe auf die Be¬
festigung und Erweiterung der russischen Herrschaft in Kleinasten ohne Eifer¬
sucht, lege aber den höchsten Werth darauf, daß Afghanistans Unabhängigkeit
gewahrt bleibe. Rußland hat sich beeilt, zu versichern, daß es nicht daran
denke, diese Unabhängigkeit anzutasten, vielmehr Afghanistan als neutrales
Gebiet betrachte, und diese Antwort ist nach Gladstone's Erklärung mit leb¬
hafter Befriedigung entgegengenommen worden. Man kann indeß kaum glauben,
daß das englische Cabinet auf derartige Versicherungen ernstlichen Werth
lege, wenigstens würde die Geschichte der successiven Einverleibung Polens
ein bedeutsames vsstigm terrens dagegen geltend machen, um so mehr, als
die Grenzen Afghanistans sehr wenig bestimmt sind, also keine Demar¬
kationslinie herzustellen ist.

Sodann hat der neue Vicekönig, Lord Mayo, mit dem Emir von Afgha¬
nistan, Shir Ali, einen Subfidienvertrag abgeschlossen, durch welchen dem¬
selben jährlich 120,000 L. zugesichert werden. Eine solche Summe ist aller¬
dings von großer Bedeutung für den Häuptling eines armen und von
Parteiungen zerrissenen Landes, ob aber damit die Fehler der vergangenen
Politik Englands gut zu machen sind, ist zweifelhaft; daß diese Fehler aber
auch nach der unglücklichen Expedition von 1839 zahlreich sind, ist nicht
zweifelhaft. Man machte einen Vertrag mit Dose Mohammed, durch den
man ihn und seine Erben als Herren des Landes anerkannte. Als aber ein
Bürgerkrieg ausbrach und der Emir in Schwierigkeiten kam, lehnte man
ab, ihm zu helfen. Diese Politik der Nichtintervcntion ward indeß nicht ein¬
mal eingehalten, sondern als der Gegner der Familie. Afzul Khan, die Ober-
Hand zu erhalten schien, und dann Cabul und Candahar in seine Hand fielen
und dieser Nebenbuhler Anerkennung vom Vicekönig forderte, antwortete


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/412>, abgerufen am 02.07.2024.