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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Nußland und England in Centralasien.

Die überraschenden Fortschritte, welche Rußland in neuster Zeit in
Centralasien gemacht, haben allgemeine Aufmerksamkeit erregt, begreiflicher
Weise speciell in England. Khokand ist schon vor geraumer Zeit in das
russische Reich aufgegangen, das Chanat von Chiwa sieht demnächst einem
gleichen Schicksal entgegen und nun hat ganz neuerlich die Uebergabe der be¬
rühmten Stadt Samarkand und ihres Gebiets den Emir von Bochara zur
Stellung eines russischen Satrapen degradirt. Dieses staunenswerthe Vor¬
dringen hat um so mehr beunruhigt, als grade in jüngster Zeit der ungari¬
sche Reisende Vambery seine bestimmte Ansicht dahin ausgesprochen, daß die
Spitze der russischen Bestrebungen gegen das anglo-indische Reich gerichtet
sei. Dagegen hat nun freilich nicht blos die "Times" remonstrirt von der
man gewohnt ist, daß sie den Kopf in den Busch steckt, sondern auch der
Unterstaatssecretär des indischen Amtes, Mr. Grant Duff. Auf eine Jnter¬
pellation von Mr. Eastwick führte er am 9. Juli im Unterhause aus, daß
einmal Rußland überhaupt den englischen Besitzungen noch bei weitem nicht so
nahe gekommen sei, als man gewöhnlich glaube, und daß es andererseits durchaus
verkehrt sei, einen Angriff auf Indien zu fürchten. Die Politik, durch welche
die indische Regierung sich zu befestigen suche, liege in dem Streben aus¬
gesprochen, den Frieden mit den Nachbarn zu unterstützen, die Nordwestgrenze
zu stärken, den Handel mit Centralasien zu beleben und die englische Herr¬
schaft in Indien durch zeitgemäße Reformen populär zu machen.

Gleiche Ansichten hat Grant Duff schon kurz vor seinem Eintritt ins
Ministerium in seinem Buche ?o1itieg.1 Lurve^ ausgesprochen. Er hat be¬
tont, daß England nicht nur außer Stande gewesen, die Festsetzung Ru߬
lands in Centralasien zu hindern, und daß jede Einmischung die Sache ver¬
schlimmert haben würde, sondern er meint auch, daß die Ersetzung barba¬
rischer Charade durch die russische Herrschaft verhältnißmäßig ein Vortheil für
England sei. Es sei auch sehr möglich, daß man in commercieller Hinsicht
sogar noch dabei gewinnen könne, selbst wenn sich die russischen Eroberungen


Gltnzbvten III. 18VS, 51
Nußland und England in Centralasien.

Die überraschenden Fortschritte, welche Rußland in neuster Zeit in
Centralasien gemacht, haben allgemeine Aufmerksamkeit erregt, begreiflicher
Weise speciell in England. Khokand ist schon vor geraumer Zeit in das
russische Reich aufgegangen, das Chanat von Chiwa sieht demnächst einem
gleichen Schicksal entgegen und nun hat ganz neuerlich die Uebergabe der be¬
rühmten Stadt Samarkand und ihres Gebiets den Emir von Bochara zur
Stellung eines russischen Satrapen degradirt. Dieses staunenswerthe Vor¬
dringen hat um so mehr beunruhigt, als grade in jüngster Zeit der ungari¬
sche Reisende Vambery seine bestimmte Ansicht dahin ausgesprochen, daß die
Spitze der russischen Bestrebungen gegen das anglo-indische Reich gerichtet
sei. Dagegen hat nun freilich nicht blos die „Times" remonstrirt von der
man gewohnt ist, daß sie den Kopf in den Busch steckt, sondern auch der
Unterstaatssecretär des indischen Amtes, Mr. Grant Duff. Auf eine Jnter¬
pellation von Mr. Eastwick führte er am 9. Juli im Unterhause aus, daß
einmal Rußland überhaupt den englischen Besitzungen noch bei weitem nicht so
nahe gekommen sei, als man gewöhnlich glaube, und daß es andererseits durchaus
verkehrt sei, einen Angriff auf Indien zu fürchten. Die Politik, durch welche
die indische Regierung sich zu befestigen suche, liege in dem Streben aus¬
gesprochen, den Frieden mit den Nachbarn zu unterstützen, die Nordwestgrenze
zu stärken, den Handel mit Centralasien zu beleben und die englische Herr¬
schaft in Indien durch zeitgemäße Reformen populär zu machen.

Gleiche Ansichten hat Grant Duff schon kurz vor seinem Eintritt ins
Ministerium in seinem Buche ?o1itieg.1 Lurve^ ausgesprochen. Er hat be¬
tont, daß England nicht nur außer Stande gewesen, die Festsetzung Ru߬
lands in Centralasien zu hindern, und daß jede Einmischung die Sache ver¬
schlimmert haben würde, sondern er meint auch, daß die Ersetzung barba¬
rischer Charade durch die russische Herrschaft verhältnißmäßig ein Vortheil für
England sei. Es sei auch sehr möglich, daß man in commercieller Hinsicht
sogar noch dabei gewinnen könne, selbst wenn sich die russischen Eroberungen


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[0409] Nußland und England in Centralasien. Die überraschenden Fortschritte, welche Rußland in neuster Zeit in Centralasien gemacht, haben allgemeine Aufmerksamkeit erregt, begreiflicher Weise speciell in England. Khokand ist schon vor geraumer Zeit in das russische Reich aufgegangen, das Chanat von Chiwa sieht demnächst einem gleichen Schicksal entgegen und nun hat ganz neuerlich die Uebergabe der be¬ rühmten Stadt Samarkand und ihres Gebiets den Emir von Bochara zur Stellung eines russischen Satrapen degradirt. Dieses staunenswerthe Vor¬ dringen hat um so mehr beunruhigt, als grade in jüngster Zeit der ungari¬ sche Reisende Vambery seine bestimmte Ansicht dahin ausgesprochen, daß die Spitze der russischen Bestrebungen gegen das anglo-indische Reich gerichtet sei. Dagegen hat nun freilich nicht blos die „Times" remonstrirt von der man gewohnt ist, daß sie den Kopf in den Busch steckt, sondern auch der Unterstaatssecretär des indischen Amtes, Mr. Grant Duff. Auf eine Jnter¬ pellation von Mr. Eastwick führte er am 9. Juli im Unterhause aus, daß einmal Rußland überhaupt den englischen Besitzungen noch bei weitem nicht so nahe gekommen sei, als man gewöhnlich glaube, und daß es andererseits durchaus verkehrt sei, einen Angriff auf Indien zu fürchten. Die Politik, durch welche die indische Regierung sich zu befestigen suche, liege in dem Streben aus¬ gesprochen, den Frieden mit den Nachbarn zu unterstützen, die Nordwestgrenze zu stärken, den Handel mit Centralasien zu beleben und die englische Herr¬ schaft in Indien durch zeitgemäße Reformen populär zu machen. Gleiche Ansichten hat Grant Duff schon kurz vor seinem Eintritt ins Ministerium in seinem Buche ?o1itieg.1 Lurve^ ausgesprochen. Er hat be¬ tont, daß England nicht nur außer Stande gewesen, die Festsetzung Ru߬ lands in Centralasien zu hindern, und daß jede Einmischung die Sache ver¬ schlimmert haben würde, sondern er meint auch, daß die Ersetzung barba¬ rischer Charade durch die russische Herrschaft verhältnißmäßig ein Vortheil für England sei. Es sei auch sehr möglich, daß man in commercieller Hinsicht sogar noch dabei gewinnen könne, selbst wenn sich die russischen Eroberungen Gltnzbvten III. 18VS, 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/409>, abgerufen am 26.06.2024.