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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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wärtige Verwickelungen scheint zwar ferner denn je abzuliegen: in Frankreich
fragt Niemand nach etwas Anderem, als nach der Gestaltung der bevorstehen¬
den parlamentarischen Campagne, Rußland concentrirt alle seine Anstrengungen
auf die Ausbreitung des ungeheuren Eisenbahnnetzes, das die östliche Hälfte
des Welttheils umspannen soll und auf die Russification der westlichen Grenz¬
provinzen und selbst der Leiter der östreichischen Politik hat seiner Actionslust
nicht anders, als durch Abfassung turbulenter Depeschen Luft machen können.
Aber es fragt sich, ob diese friedliche Temperatur gerade diejenige ist, von der
ein kräftiges Wachsthum des im I. 1866 gepflanzten Baumes erwartet werden
kann. Während die Thätigkeit eigentlich aller unserer politischen Parteien
unter dem Einfluß des mehr oder minder deutlichen Bewußtseins steht, daß
die nächsten Phasen der nationalen Entwickelung in eine Hand gelegt find,
hat der Leiter des preußisch-deutschen Staatslebens sich in eine Zurückgezogen¬
heit begeben müssen, deren Ende nicht abzusehen ist. Ueberdauert die Entfer¬
nung des Grafen Bismarck von den Geschäften die nächste Kammersession,
so wird zunächst diese vollständig inkalkulabel; das Hauptgewicht, das die Re¬
gierung in die Wagschale werfen konnte, muß solchen Falls in Abzug gebracht
werden und wie Ersatz für dasselbe geschafft werden soll, weiß Niemand zu
sagen. Auch über die Natur der finanziellen Vorlagen, welche den Kammern
vorgelegt werden sollen, fehlen alle positiven Daten; seit drei Monaten
wechseln die Berichte über den Stand der Finanzen mit dem Monde und
doch hängt Alles von dem Maß der Forderungen ab, welche der Landes¬
vertretung gestellt werden sollen. Fraglich erscheint endlich noch das Ver¬
hältniß der überkommenen Parteien, denn trotz der Discretion, welche
beobachtet worden, steht außer Zweifel, daß die letzte Session des Zollparla¬
ments auf eine derselben, und zwar auf die wichtigste, zersetzend gewirkt hat.

Sind das Verhältnisse, die durch sich selbst, ohne belebenden Anstoß von
Außen, ins Gleis gebracht, wieder in Bewegung gesetzt werden können? Und
doch war Alles auf diese Bewegung und zwar auf eine Bewegung in raschem
Tempo angelegt. Der Einfluß der Stagnation, der in der süddeutschen
Frage seit nunmehr zwei Jahren besteht, ist bisher durch die relativ günstige
Entwickelung der inneren Verhältnisse des norddeutschen Bundes aufgewogen
worden. Aber diese sind von dem Entwickelungsgange der preußischen Dinge
zu abhängig, als daß auf ihren ungehemmten Fortgang auch in dem Fall
gerechnet werden könnte, wenn Graf Bismarck dauernd den Geschäften fern
bleibt und das Ministerium v. d. Heydt in einen neuen Conflict mit der
Volksvertretung tritt. Noch vor zwei Jahren hätte die Rücksicht auf die
Wirkungen, welche ein solcher Zusammenstoß auf Süddeutschland üben würde,
bestimmend auf die Haltung beider Theile eingewirkt, -- heute muß eine
solche Rücksicht durchaus überflüssig erscheinen, denn die Gedanken an einen


wärtige Verwickelungen scheint zwar ferner denn je abzuliegen: in Frankreich
fragt Niemand nach etwas Anderem, als nach der Gestaltung der bevorstehen¬
den parlamentarischen Campagne, Rußland concentrirt alle seine Anstrengungen
auf die Ausbreitung des ungeheuren Eisenbahnnetzes, das die östliche Hälfte
des Welttheils umspannen soll und auf die Russification der westlichen Grenz¬
provinzen und selbst der Leiter der östreichischen Politik hat seiner Actionslust
nicht anders, als durch Abfassung turbulenter Depeschen Luft machen können.
Aber es fragt sich, ob diese friedliche Temperatur gerade diejenige ist, von der
ein kräftiges Wachsthum des im I. 1866 gepflanzten Baumes erwartet werden
kann. Während die Thätigkeit eigentlich aller unserer politischen Parteien
unter dem Einfluß des mehr oder minder deutlichen Bewußtseins steht, daß
die nächsten Phasen der nationalen Entwickelung in eine Hand gelegt find,
hat der Leiter des preußisch-deutschen Staatslebens sich in eine Zurückgezogen¬
heit begeben müssen, deren Ende nicht abzusehen ist. Ueberdauert die Entfer¬
nung des Grafen Bismarck von den Geschäften die nächste Kammersession,
so wird zunächst diese vollständig inkalkulabel; das Hauptgewicht, das die Re¬
gierung in die Wagschale werfen konnte, muß solchen Falls in Abzug gebracht
werden und wie Ersatz für dasselbe geschafft werden soll, weiß Niemand zu
sagen. Auch über die Natur der finanziellen Vorlagen, welche den Kammern
vorgelegt werden sollen, fehlen alle positiven Daten; seit drei Monaten
wechseln die Berichte über den Stand der Finanzen mit dem Monde und
doch hängt Alles von dem Maß der Forderungen ab, welche der Landes¬
vertretung gestellt werden sollen. Fraglich erscheint endlich noch das Ver¬
hältniß der überkommenen Parteien, denn trotz der Discretion, welche
beobachtet worden, steht außer Zweifel, daß die letzte Session des Zollparla¬
ments auf eine derselben, und zwar auf die wichtigste, zersetzend gewirkt hat.

Sind das Verhältnisse, die durch sich selbst, ohne belebenden Anstoß von
Außen, ins Gleis gebracht, wieder in Bewegung gesetzt werden können? Und
doch war Alles auf diese Bewegung und zwar auf eine Bewegung in raschem
Tempo angelegt. Der Einfluß der Stagnation, der in der süddeutschen
Frage seit nunmehr zwei Jahren besteht, ist bisher durch die relativ günstige
Entwickelung der inneren Verhältnisse des norddeutschen Bundes aufgewogen
worden. Aber diese sind von dem Entwickelungsgange der preußischen Dinge
zu abhängig, als daß auf ihren ungehemmten Fortgang auch in dem Fall
gerechnet werden könnte, wenn Graf Bismarck dauernd den Geschäften fern
bleibt und das Ministerium v. d. Heydt in einen neuen Conflict mit der
Volksvertretung tritt. Noch vor zwei Jahren hätte die Rücksicht auf die
Wirkungen, welche ein solcher Zusammenstoß auf Süddeutschland üben würde,
bestimmend auf die Haltung beider Theile eingewirkt, — heute muß eine
solche Rücksicht durchaus überflüssig erscheinen, denn die Gedanken an einen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/357>, abgerufen am 22.07.2024.