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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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weniger Einfluß auf die Erneuerung der Executive besitzt, wenn es dieselbe
selbst wühlt, als wenn es sie der gesetzgebenden Behörde überträgt, die einer¬
seits aufs Entschiedenste genöthigt ist, der öffentlichen Meinung Rechnung
zu tragen (? eben weil dieses zu wenig geschah, kam man auf die directe
Volkswahl) und andererseits sich viel besser in der Lage befindet, die Männer
zu finden, welche die zum Regieren nöthigen Eigenschasten besitzen. Die
directe Wahl hingegen kann nur durch unverantwortliche Comites angebahnt,
geleitet und vollzogen werden. Jeder Bürger, welcher seine Stimme nicht
ganz vergeblich abgeben will, ist genöthigt entweder nach einem bestimmten
Vorschlage zu stimmen oder aus mehreren Listen steh selbst eine zusammen¬
zusetzen. Er besitzt die Freiheit die Personen, zu denen er Vertrauen hat,
zu wählen nicht und so ist es nur ein Hohn zu behaupten, bei diesem System
wähle das Volk die Executive. In Wahrheit spielt das Volk dabei nur
die Rolle eines Statisten, der auf das Stichwort einiger Leute hört, die er
vielleicht nicht einmal kennt. Alles dieses fällt um so schwerer ins Gewicht,
als die directe Wahl der Executive dieser zwar eine große Kraft verleiht,
die aber zu wenig controlirt ist. Sie ist der Legislative weit überlegen, weil
sie weiß, daß sie vom gestimmten Volke gewählt ist, während die Mitglieder
jener eigentlich nur bestimmte Wahlbezirke vertreten.

Das Uebel besteht eben darin, daß wir in der Schweiz das echte Ne-
Präsentativsystem nie besessen haben. Als wir die aristokratische und patii-
archalische Staatsform zerbrachen, behielten wir unglücklicherweise ein Princip
derselben bei, dem es vorbehalten sein sollte auch unsere demokratischen Sy¬
steme zu fälschen. Dies Princip ist die Länge der Amtsdauer und die
nur partielle Erneuerung der Großen und Kleinen Räthe.
Seit 1813 wurde dieses Princip allmälig modificirt, aber nur formell, nicht
dem Geiste nach. Man verkürzte die Amtsdauer, man führte gleichzeitige
und integrale Erneuerung der beiden Räthe ein oder vielmehr eine perio¬
dische Wiederwahl auf alle 2, 3. 4 Jahre; aber das durchaus aristokratische
Princip, daß' die einmal gewählten Räthe während ihrer Amtsdauer nicht
entfernt werden können, erhielt man aufrecht und sicherte so den Regierungen
eine gewisse Stabilität und ununterbrochene Dauer, welcher fast nie anders
als durch eine große Krise, durch Revolution oder Verfassungsrevision ein
Ende gemacht wurde. So wurden zwei einander nicht nur entgegensetzte,
sondern geradezu feindliche Principien, das aristokratische und das demokra¬
tische, an einander geschmiedet, deren zunehmender Antagonismus die Staats-
gesellschaft nothwendig in eine wachsende Unbehaglichkeit versetzen muß. So¬
bald die obersten Behörden während einer bestimmten Amtsdauer nicht ent¬
fernbar sind, ist man genöthigt sie mit Schranken zu umgeben, welche sie
Politisch impotent machen müssen, während man ihnen gleichzeitig ihre admini-


weniger Einfluß auf die Erneuerung der Executive besitzt, wenn es dieselbe
selbst wühlt, als wenn es sie der gesetzgebenden Behörde überträgt, die einer¬
seits aufs Entschiedenste genöthigt ist, der öffentlichen Meinung Rechnung
zu tragen (? eben weil dieses zu wenig geschah, kam man auf die directe
Volkswahl) und andererseits sich viel besser in der Lage befindet, die Männer
zu finden, welche die zum Regieren nöthigen Eigenschasten besitzen. Die
directe Wahl hingegen kann nur durch unverantwortliche Comites angebahnt,
geleitet und vollzogen werden. Jeder Bürger, welcher seine Stimme nicht
ganz vergeblich abgeben will, ist genöthigt entweder nach einem bestimmten
Vorschlage zu stimmen oder aus mehreren Listen steh selbst eine zusammen¬
zusetzen. Er besitzt die Freiheit die Personen, zu denen er Vertrauen hat,
zu wählen nicht und so ist es nur ein Hohn zu behaupten, bei diesem System
wähle das Volk die Executive. In Wahrheit spielt das Volk dabei nur
die Rolle eines Statisten, der auf das Stichwort einiger Leute hört, die er
vielleicht nicht einmal kennt. Alles dieses fällt um so schwerer ins Gewicht,
als die directe Wahl der Executive dieser zwar eine große Kraft verleiht,
die aber zu wenig controlirt ist. Sie ist der Legislative weit überlegen, weil
sie weiß, daß sie vom gestimmten Volke gewählt ist, während die Mitglieder
jener eigentlich nur bestimmte Wahlbezirke vertreten.

Das Uebel besteht eben darin, daß wir in der Schweiz das echte Ne-
Präsentativsystem nie besessen haben. Als wir die aristokratische und patii-
archalische Staatsform zerbrachen, behielten wir unglücklicherweise ein Princip
derselben bei, dem es vorbehalten sein sollte auch unsere demokratischen Sy¬
steme zu fälschen. Dies Princip ist die Länge der Amtsdauer und die
nur partielle Erneuerung der Großen und Kleinen Räthe.
Seit 1813 wurde dieses Princip allmälig modificirt, aber nur formell, nicht
dem Geiste nach. Man verkürzte die Amtsdauer, man führte gleichzeitige
und integrale Erneuerung der beiden Räthe ein oder vielmehr eine perio¬
dische Wiederwahl auf alle 2, 3. 4 Jahre; aber das durchaus aristokratische
Princip, daß' die einmal gewählten Räthe während ihrer Amtsdauer nicht
entfernt werden können, erhielt man aufrecht und sicherte so den Regierungen
eine gewisse Stabilität und ununterbrochene Dauer, welcher fast nie anders
als durch eine große Krise, durch Revolution oder Verfassungsrevision ein
Ende gemacht wurde. So wurden zwei einander nicht nur entgegensetzte,
sondern geradezu feindliche Principien, das aristokratische und das demokra¬
tische, an einander geschmiedet, deren zunehmender Antagonismus die Staats-
gesellschaft nothwendig in eine wachsende Unbehaglichkeit versetzen muß. So¬
bald die obersten Behörden während einer bestimmten Amtsdauer nicht ent¬
fernbar sind, ist man genöthigt sie mit Schranken zu umgeben, welche sie
Politisch impotent machen müssen, während man ihnen gleichzeitig ihre admini-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/263>, abgerufen am 22.07.2024.