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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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mäßigeren Charakter und größere Macht derselben. Arotz der stärksten An¬
fechtungen dieser Bestimmung von Seiten der Opposition wurde sie in die
Verfassung aufgenommen, deren §. 37 lautet: "die vollziehende und verwal¬
tende Cantonalbehörde. Regierungsrath, besteht aus 7 Mitgliedern, welche in
einem cantonalen Wahlkreise gleichzeitig mit dem Cantonsrathe durch das
Volk gewählt werden", und zwar auf drei Jahre (§. 11). In derselben
Weise werden die beiden Mitglieder des Ständeraths ebenfalls auf drei Jahre
gewählt. -- Zu diesen directen Volkswahlen kommen endlich noch die schon
seit 1865 eingeführten directen Wahlen der Bezirksbeamten und Bezirksräthe
durch die Einwohner des Bezirks. Auch sie finden alle drei Jahre statt.
So kam es, daß bei den am 9. Mai d. I. stattgefundenen allgemeinen Wah¬
len in manchem Bezirke jeder Bürger etwa 40 Namen auf seine Wahlliste
zu schreiben hatte. Dazu gesellen sich in Zukunft noch die obligatorischen,
alle Jahre zweimal vorzunehmenden Volksabstimmungen über die vom Can¬
tonsrathe erlassenen Gesetze, von denen bis Ende 1870 bereits 30 von den
Behörden in Aussicht genommen sind.

Herr Tallichet stößt sich bei seiner Musterung der Verfassungsbestim-
mungen zuerst an das Recht der Initiative. Wenn ein beliebiger Bürger,
der einen beliebigen, abgeschmackten Einfall hat, unterstützt von einem Drit¬
theil des Cantonsraths oder 3000 Bittstellern, 60,000 Activbürger in Be¬
wegung setzen, den ganzen complicirten Mechanismus einer Volksabstimmung
in Gang bringen kann und sämmtliche Bürger verpflichtet sein sollen, sich
zur Abstimmung einzufinden, so scheint ihm das die Organisation der Anarchie.
Wir halten jedoch die Sache nicht für so schlimm und möchten darauf hin¬
weisen, daß es in Wirklichkeit kaum möglich sein wird, für einen abgeschmackten
Antrag ein Drittheil des Cantonsraths und S000 Bürger zu gewinnen.
Die "Initiative" hat übrigens seither bedeutende Propaganda gemacht, ebenso
das "Referendum", das jetzt auch im Thurgau und namentlich im Canton
Bern eingeführt ist, was freilich noch nichts für deren Vortrefflichkeit beweist.

Während nach Herrn T. das Referendum der Lebensfähigkeit entbehrt
und bald wieder abgeschafft werden dürfte, -- was wir einstweilen sehr be¬
zweifeln -- wird nach seiner Ansicht die directe Volkswahl der Regierung,
einmal eingeführt, viel schwerer wieder zu entfernen sein, weil deren üble
Folgen schwerer zu erkennen, obwohl tiefer eingreifend sind und weil die
Masse der Wähler vielmehr daran hängt, über Personenfragen, als über
legislatorische Fragen zu entscheiden. Es wird auch schwer halten sie zu
überzeugen, daß man ihnen damit kein Recht nimmt, obschon dieses angeb¬
liche Recht mehr zu ihrem Schaden als zu ihrem Nutzen ausschlägt. Nun
hat aber die Erfahrung sowohl in den Vereinigten Staaten als in den beiden
Schweizercantonen, wo dieses Recht bisher bestanden, gelehrt, daß das Volk viel


mäßigeren Charakter und größere Macht derselben. Arotz der stärksten An¬
fechtungen dieser Bestimmung von Seiten der Opposition wurde sie in die
Verfassung aufgenommen, deren §. 37 lautet: „die vollziehende und verwal¬
tende Cantonalbehörde. Regierungsrath, besteht aus 7 Mitgliedern, welche in
einem cantonalen Wahlkreise gleichzeitig mit dem Cantonsrathe durch das
Volk gewählt werden", und zwar auf drei Jahre (§. 11). In derselben
Weise werden die beiden Mitglieder des Ständeraths ebenfalls auf drei Jahre
gewählt. — Zu diesen directen Volkswahlen kommen endlich noch die schon
seit 1865 eingeführten directen Wahlen der Bezirksbeamten und Bezirksräthe
durch die Einwohner des Bezirks. Auch sie finden alle drei Jahre statt.
So kam es, daß bei den am 9. Mai d. I. stattgefundenen allgemeinen Wah¬
len in manchem Bezirke jeder Bürger etwa 40 Namen auf seine Wahlliste
zu schreiben hatte. Dazu gesellen sich in Zukunft noch die obligatorischen,
alle Jahre zweimal vorzunehmenden Volksabstimmungen über die vom Can¬
tonsrathe erlassenen Gesetze, von denen bis Ende 1870 bereits 30 von den
Behörden in Aussicht genommen sind.

Herr Tallichet stößt sich bei seiner Musterung der Verfassungsbestim-
mungen zuerst an das Recht der Initiative. Wenn ein beliebiger Bürger,
der einen beliebigen, abgeschmackten Einfall hat, unterstützt von einem Drit¬
theil des Cantonsraths oder 3000 Bittstellern, 60,000 Activbürger in Be¬
wegung setzen, den ganzen complicirten Mechanismus einer Volksabstimmung
in Gang bringen kann und sämmtliche Bürger verpflichtet sein sollen, sich
zur Abstimmung einzufinden, so scheint ihm das die Organisation der Anarchie.
Wir halten jedoch die Sache nicht für so schlimm und möchten darauf hin¬
weisen, daß es in Wirklichkeit kaum möglich sein wird, für einen abgeschmackten
Antrag ein Drittheil des Cantonsraths und S000 Bürger zu gewinnen.
Die „Initiative" hat übrigens seither bedeutende Propaganda gemacht, ebenso
das „Referendum", das jetzt auch im Thurgau und namentlich im Canton
Bern eingeführt ist, was freilich noch nichts für deren Vortrefflichkeit beweist.

Während nach Herrn T. das Referendum der Lebensfähigkeit entbehrt
und bald wieder abgeschafft werden dürfte, — was wir einstweilen sehr be¬
zweifeln — wird nach seiner Ansicht die directe Volkswahl der Regierung,
einmal eingeführt, viel schwerer wieder zu entfernen sein, weil deren üble
Folgen schwerer zu erkennen, obwohl tiefer eingreifend sind und weil die
Masse der Wähler vielmehr daran hängt, über Personenfragen, als über
legislatorische Fragen zu entscheiden. Es wird auch schwer halten sie zu
überzeugen, daß man ihnen damit kein Recht nimmt, obschon dieses angeb¬
liche Recht mehr zu ihrem Schaden als zu ihrem Nutzen ausschlägt. Nun
hat aber die Erfahrung sowohl in den Vereinigten Staaten als in den beiden
Schweizercantonen, wo dieses Recht bisher bestanden, gelehrt, daß das Volk viel


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[0262] mäßigeren Charakter und größere Macht derselben. Arotz der stärksten An¬ fechtungen dieser Bestimmung von Seiten der Opposition wurde sie in die Verfassung aufgenommen, deren §. 37 lautet: „die vollziehende und verwal¬ tende Cantonalbehörde. Regierungsrath, besteht aus 7 Mitgliedern, welche in einem cantonalen Wahlkreise gleichzeitig mit dem Cantonsrathe durch das Volk gewählt werden", und zwar auf drei Jahre (§. 11). In derselben Weise werden die beiden Mitglieder des Ständeraths ebenfalls auf drei Jahre gewählt. — Zu diesen directen Volkswahlen kommen endlich noch die schon seit 1865 eingeführten directen Wahlen der Bezirksbeamten und Bezirksräthe durch die Einwohner des Bezirks. Auch sie finden alle drei Jahre statt. So kam es, daß bei den am 9. Mai d. I. stattgefundenen allgemeinen Wah¬ len in manchem Bezirke jeder Bürger etwa 40 Namen auf seine Wahlliste zu schreiben hatte. Dazu gesellen sich in Zukunft noch die obligatorischen, alle Jahre zweimal vorzunehmenden Volksabstimmungen über die vom Can¬ tonsrathe erlassenen Gesetze, von denen bis Ende 1870 bereits 30 von den Behörden in Aussicht genommen sind. Herr Tallichet stößt sich bei seiner Musterung der Verfassungsbestim- mungen zuerst an das Recht der Initiative. Wenn ein beliebiger Bürger, der einen beliebigen, abgeschmackten Einfall hat, unterstützt von einem Drit¬ theil des Cantonsraths oder 3000 Bittstellern, 60,000 Activbürger in Be¬ wegung setzen, den ganzen complicirten Mechanismus einer Volksabstimmung in Gang bringen kann und sämmtliche Bürger verpflichtet sein sollen, sich zur Abstimmung einzufinden, so scheint ihm das die Organisation der Anarchie. Wir halten jedoch die Sache nicht für so schlimm und möchten darauf hin¬ weisen, daß es in Wirklichkeit kaum möglich sein wird, für einen abgeschmackten Antrag ein Drittheil des Cantonsraths und S000 Bürger zu gewinnen. Die „Initiative" hat übrigens seither bedeutende Propaganda gemacht, ebenso das „Referendum", das jetzt auch im Thurgau und namentlich im Canton Bern eingeführt ist, was freilich noch nichts für deren Vortrefflichkeit beweist. Während nach Herrn T. das Referendum der Lebensfähigkeit entbehrt und bald wieder abgeschafft werden dürfte, — was wir einstweilen sehr be¬ zweifeln — wird nach seiner Ansicht die directe Volkswahl der Regierung, einmal eingeführt, viel schwerer wieder zu entfernen sein, weil deren üble Folgen schwerer zu erkennen, obwohl tiefer eingreifend sind und weil die Masse der Wähler vielmehr daran hängt, über Personenfragen, als über legislatorische Fragen zu entscheiden. Es wird auch schwer halten sie zu überzeugen, daß man ihnen damit kein Recht nimmt, obschon dieses angeb¬ liche Recht mehr zu ihrem Schaden als zu ihrem Nutzen ausschlägt. Nun hat aber die Erfahrung sowohl in den Vereinigten Staaten als in den beiden Schweizercantonen, wo dieses Recht bisher bestanden, gelehrt, daß das Volk viel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/262>, abgerufen am 24.08.2024.