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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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willkürliche, zufällige sein. Es handelt sich hier ebenso wie bei der Periodi-
sirung um Planmäßigkeit, um die "organische Gliederung" des Materials.
Daher ist es von Interesse die Abschnitte zu betrachten, in welche Herr Honegger
seinen ersten Band zerlegt. Sie sind folgende: 1) Consulat und Kaiserreich;
2) die einzelnen Staaten, innere Politik und Gesetzgebung; 3) Sociale Züge;
4) Erfindungen, Technik und Bauten; 6) Reisen, Entdeckungen und Koloni¬
sationen; 6) Wissenschaft und gelehrte Forschung; 7) Tagesgeschichte und
Politik. Memoiren. Journalistik; 8) Bildende Künste; 9) Theater und Musik;
10) Schöne Literatur.

Politik und Literatur sind bekanntlich die Gebiete, welche, einem her¬
gebrachten Vorurtheil zufolge, Jedermann ohne besondere Vorbereitung ver¬
steht, beherrscht, über welche zu schreiben und zu sprechen Jeder sich befähigt
glaubt. Historiker, welche ihr ganzes Leben lang politische Geschichte treiben
und schreiben, denken nur selten an ein ernsteres Studium der Staatswissen¬
schaften, während es doch nicht leicht irgend Jemand einfallen könnte, die
Geschichte der Chemie zu schreiben ohne letztere studirt zu haben oder die
Geschichte der Wirthschaft ohne in der Nationalökonomie zu Hause zu sein.
Lange Zeit wurde der Begriff der Geschichte mit dem der politischen Geschichte
verwechselt, bis endlich insbesondere die schöne Literatur, auch die Literatur
im weiteren Sinne einen Platz in allgemein-geschichtlichen Darstellungen er¬
oberte. Man betrachtete sie als eine nothwendige Ergänzung zu der Staaten¬
geschichte; man war einigermaßen vollständiger geworden. In der Behandlung
der Literatur, so flüchtig und beiläufig sie auch meist abgefertigt wurde, lag
doch eine Art Geständniß, daß die Geschichte der Staaten allein nicht mit
der Allgemeinen Geschichte verwechselt werden dürfe. In dem Maße als die
speciellen literarhistorischen Forschungen gediehen, ward auch der Allgemeinen
Geschichte von dieser Seite her Material zugetragen, und die letztere muß
Sorge tragen es zu verwenden. Anders stand es mit anderen Gebieten.
Politik und Literatur genossen ein Privilegium, -- Gegenstand allgemein¬
geschichtlicher Behandlung zu werden: Volkswirthschaft, Nechtsentwickelung
u. tgi. blieben wenig beachtet.

Es ist natürlich, wenn mit dem Begriff der Culturgeschichte in neuerer
Zeit das Bestreben zum Ausdruck gelangt ist, gegen eine solche Einseitigkeit
anzukämpfen. Es soll nach Vollständigkeit der historischen Objecte gestrebt
werden. Man will alle Culturgebiete historisch betrachten. So gelangt man
zur Encyclopädie der Geschichte, und man darf sagen, daß ein solches Streben
zu dem Vielverheißendsten auf dem Gebiete der neuesten Geschichte gehört.

Herr Honegger vertritt ebenfalls dieses Streben nach einer solchen Tota¬
lität der Objecte für die Geschichtschreibung. Dieses Streben war bei ihm
die Veranlassung zu dem umfassenden Unternehmen, dessen Anfänge uns vor-


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willkürliche, zufällige sein. Es handelt sich hier ebenso wie bei der Periodi-
sirung um Planmäßigkeit, um die „organische Gliederung" des Materials.
Daher ist es von Interesse die Abschnitte zu betrachten, in welche Herr Honegger
seinen ersten Band zerlegt. Sie sind folgende: 1) Consulat und Kaiserreich;
2) die einzelnen Staaten, innere Politik und Gesetzgebung; 3) Sociale Züge;
4) Erfindungen, Technik und Bauten; 6) Reisen, Entdeckungen und Koloni¬
sationen; 6) Wissenschaft und gelehrte Forschung; 7) Tagesgeschichte und
Politik. Memoiren. Journalistik; 8) Bildende Künste; 9) Theater und Musik;
10) Schöne Literatur.

Politik und Literatur sind bekanntlich die Gebiete, welche, einem her¬
gebrachten Vorurtheil zufolge, Jedermann ohne besondere Vorbereitung ver¬
steht, beherrscht, über welche zu schreiben und zu sprechen Jeder sich befähigt
glaubt. Historiker, welche ihr ganzes Leben lang politische Geschichte treiben
und schreiben, denken nur selten an ein ernsteres Studium der Staatswissen¬
schaften, während es doch nicht leicht irgend Jemand einfallen könnte, die
Geschichte der Chemie zu schreiben ohne letztere studirt zu haben oder die
Geschichte der Wirthschaft ohne in der Nationalökonomie zu Hause zu sein.
Lange Zeit wurde der Begriff der Geschichte mit dem der politischen Geschichte
verwechselt, bis endlich insbesondere die schöne Literatur, auch die Literatur
im weiteren Sinne einen Platz in allgemein-geschichtlichen Darstellungen er¬
oberte. Man betrachtete sie als eine nothwendige Ergänzung zu der Staaten¬
geschichte; man war einigermaßen vollständiger geworden. In der Behandlung
der Literatur, so flüchtig und beiläufig sie auch meist abgefertigt wurde, lag
doch eine Art Geständniß, daß die Geschichte der Staaten allein nicht mit
der Allgemeinen Geschichte verwechselt werden dürfe. In dem Maße als die
speciellen literarhistorischen Forschungen gediehen, ward auch der Allgemeinen
Geschichte von dieser Seite her Material zugetragen, und die letztere muß
Sorge tragen es zu verwenden. Anders stand es mit anderen Gebieten.
Politik und Literatur genossen ein Privilegium, — Gegenstand allgemein¬
geschichtlicher Behandlung zu werden: Volkswirthschaft, Nechtsentwickelung
u. tgi. blieben wenig beachtet.

Es ist natürlich, wenn mit dem Begriff der Culturgeschichte in neuerer
Zeit das Bestreben zum Ausdruck gelangt ist, gegen eine solche Einseitigkeit
anzukämpfen. Es soll nach Vollständigkeit der historischen Objecte gestrebt
werden. Man will alle Culturgebiete historisch betrachten. So gelangt man
zur Encyclopädie der Geschichte, und man darf sagen, daß ein solches Streben
zu dem Vielverheißendsten auf dem Gebiete der neuesten Geschichte gehört.

Herr Honegger vertritt ebenfalls dieses Streben nach einer solchen Tota¬
lität der Objecte für die Geschichtschreibung. Dieses Streben war bei ihm
die Veranlassung zu dem umfassenden Unternehmen, dessen Anfänge uns vor-


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[0227] willkürliche, zufällige sein. Es handelt sich hier ebenso wie bei der Periodi- sirung um Planmäßigkeit, um die „organische Gliederung" des Materials. Daher ist es von Interesse die Abschnitte zu betrachten, in welche Herr Honegger seinen ersten Band zerlegt. Sie sind folgende: 1) Consulat und Kaiserreich; 2) die einzelnen Staaten, innere Politik und Gesetzgebung; 3) Sociale Züge; 4) Erfindungen, Technik und Bauten; 6) Reisen, Entdeckungen und Koloni¬ sationen; 6) Wissenschaft und gelehrte Forschung; 7) Tagesgeschichte und Politik. Memoiren. Journalistik; 8) Bildende Künste; 9) Theater und Musik; 10) Schöne Literatur. Politik und Literatur sind bekanntlich die Gebiete, welche, einem her¬ gebrachten Vorurtheil zufolge, Jedermann ohne besondere Vorbereitung ver¬ steht, beherrscht, über welche zu schreiben und zu sprechen Jeder sich befähigt glaubt. Historiker, welche ihr ganzes Leben lang politische Geschichte treiben und schreiben, denken nur selten an ein ernsteres Studium der Staatswissen¬ schaften, während es doch nicht leicht irgend Jemand einfallen könnte, die Geschichte der Chemie zu schreiben ohne letztere studirt zu haben oder die Geschichte der Wirthschaft ohne in der Nationalökonomie zu Hause zu sein. Lange Zeit wurde der Begriff der Geschichte mit dem der politischen Geschichte verwechselt, bis endlich insbesondere die schöne Literatur, auch die Literatur im weiteren Sinne einen Platz in allgemein-geschichtlichen Darstellungen er¬ oberte. Man betrachtete sie als eine nothwendige Ergänzung zu der Staaten¬ geschichte; man war einigermaßen vollständiger geworden. In der Behandlung der Literatur, so flüchtig und beiläufig sie auch meist abgefertigt wurde, lag doch eine Art Geständniß, daß die Geschichte der Staaten allein nicht mit der Allgemeinen Geschichte verwechselt werden dürfe. In dem Maße als die speciellen literarhistorischen Forschungen gediehen, ward auch der Allgemeinen Geschichte von dieser Seite her Material zugetragen, und die letztere muß Sorge tragen es zu verwenden. Anders stand es mit anderen Gebieten. Politik und Literatur genossen ein Privilegium, — Gegenstand allgemein¬ geschichtlicher Behandlung zu werden: Volkswirthschaft, Nechtsentwickelung u. tgi. blieben wenig beachtet. Es ist natürlich, wenn mit dem Begriff der Culturgeschichte in neuerer Zeit das Bestreben zum Ausdruck gelangt ist, gegen eine solche Einseitigkeit anzukämpfen. Es soll nach Vollständigkeit der historischen Objecte gestrebt werden. Man will alle Culturgebiete historisch betrachten. So gelangt man zur Encyclopädie der Geschichte, und man darf sagen, daß ein solches Streben zu dem Vielverheißendsten auf dem Gebiete der neuesten Geschichte gehört. Herr Honegger vertritt ebenfalls dieses Streben nach einer solchen Tota¬ lität der Objecte für die Geschichtschreibung. Dieses Streben war bei ihm die Veranlassung zu dem umfassenden Unternehmen, dessen Anfänge uns vor- 28*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/227>, abgerufen am 22.07.2024.