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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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liegen, die Ueberschriften der einzelnen Abschnitte zeigen uns, daß er möglichst
vielseitig und in der Anlage erschöpfend zu sein versucht. Nichtsdestoweniger
ist er in der Auswahl seiner Stoffe willkürlich, unvollständig, dilettantisch.
Das Verständniß für die Bedeutung großer Culturgebiete, welche er gar
nicht oder nur sehr flüchtig berührt, suchen wir bei ihm vergebens. Die ganze
kirchengeschichtliche Entwickelung ist eigentlich nirgends erwähnt; Wirthschafts¬
geschichte suchen wir umsonst. In einem Grundriß zu einer Allgemeinen
Kulturgeschichte der Jahre 1800--1815, in welchem über Friedrich Schlegel
zehn Seiten hindurch gesprochen wird, in welchem erwähnt wird, daß 1811
Davy das Euchlorium (Chloroxhdul) hergestellt, und Eschenbach 1806 die Mund¬
harmonika erfunden habe, findet sich kein Wort über die Wirkungen der
Continentalsperre auf das wirthschaftliche Leben Europa's, sondern nur in
dem ersten Abschnitte über das Kaiserreich -- die Erwähnung der bekannten
Erlasse Napoleons und Englands als rein politische Ereignisse. Die Frage
von der weltlichen Macht des Papstthums, für die neueste Culturgeschichte
von der allergrößten Wichtigkeit und gerade in der Zeit des Kaiserreichs in
lebhaftester Weise angeregt, hat in Honeggers Buch gar keine Berücksichtigung
gefunden, während er der Besprechung der Werke von Achin von Arnim
mehrere Seiten widmet, von der Entdeckung der Chinasäure durch Vouquelin
im Jahre 1806 und von der Erfindung der Clichirmaschine im Jahr 1803
spricht. -- Der Darstellung und Kritik der Hegel'schen Philosophie sind fünf¬
zehn Seiten gewidmet, während der schon zur Zeit Napoleons wichtigen
Anfänge der literarischen Thätigkeit S. Simon's und Fourier's nicht mit
einer Silbe gedacht wird. ' Genug, es fehlen an dem von dem Verfasser "durch¬
dachten Organismus" so wichtige Glieder, daß das Ganze nothwendig als
eine Mißgeburt erscheint, wenn man es, wie der Verfasser doch wünscht, als
ein Ganzes betrachten will.

Allerdings macht der Verfasser seine Leser schon in der Vorrede auf eine
solche Unverhältnißmäßigkeit in der Bearbeitung der einzelnen Abschnitte ge¬
saßt. Er sagt: "Das Ganze wird die strengste Gleichförmigkeit des Sinnes
beherrschen, während umgekehrt die Ungleichheit des Styles und der Be¬
handlung innerhalb jedes einzelnen Bandes beim Wechsel der mannigfachen
Materien sich geltend machen werden." Diese Ungleichheit der Behandlung ist
indessen denn doch zu ausfallend. In dem Abschnitt "Wissenschaft und gelehrte
Forschung", bei welchem übrigens der Leser, beiläufig bemerkt, nicht erfährt,
wodurch sich die Wissenschaft von der gelehrten Forschung unterscheidet, ist der
Geschichte der deutschen Philosophie ein sehr viel größerer Raum (53 Seiten)
gewidmet, als der Geschichte aller andern Wissenschaften zusammen (40 Seiten.)
Bei Gelegenheit Schellings gibt der Verfasser eine allgemeine und aus¬
führliche Charakteristik der Naturphilosophie, während er bei der Geschichte


liegen, die Ueberschriften der einzelnen Abschnitte zeigen uns, daß er möglichst
vielseitig und in der Anlage erschöpfend zu sein versucht. Nichtsdestoweniger
ist er in der Auswahl seiner Stoffe willkürlich, unvollständig, dilettantisch.
Das Verständniß für die Bedeutung großer Culturgebiete, welche er gar
nicht oder nur sehr flüchtig berührt, suchen wir bei ihm vergebens. Die ganze
kirchengeschichtliche Entwickelung ist eigentlich nirgends erwähnt; Wirthschafts¬
geschichte suchen wir umsonst. In einem Grundriß zu einer Allgemeinen
Kulturgeschichte der Jahre 1800—1815, in welchem über Friedrich Schlegel
zehn Seiten hindurch gesprochen wird, in welchem erwähnt wird, daß 1811
Davy das Euchlorium (Chloroxhdul) hergestellt, und Eschenbach 1806 die Mund¬
harmonika erfunden habe, findet sich kein Wort über die Wirkungen der
Continentalsperre auf das wirthschaftliche Leben Europa's, sondern nur in
dem ersten Abschnitte über das Kaiserreich — die Erwähnung der bekannten
Erlasse Napoleons und Englands als rein politische Ereignisse. Die Frage
von der weltlichen Macht des Papstthums, für die neueste Culturgeschichte
von der allergrößten Wichtigkeit und gerade in der Zeit des Kaiserreichs in
lebhaftester Weise angeregt, hat in Honeggers Buch gar keine Berücksichtigung
gefunden, während er der Besprechung der Werke von Achin von Arnim
mehrere Seiten widmet, von der Entdeckung der Chinasäure durch Vouquelin
im Jahre 1806 und von der Erfindung der Clichirmaschine im Jahr 1803
spricht. — Der Darstellung und Kritik der Hegel'schen Philosophie sind fünf¬
zehn Seiten gewidmet, während der schon zur Zeit Napoleons wichtigen
Anfänge der literarischen Thätigkeit S. Simon's und Fourier's nicht mit
einer Silbe gedacht wird. ' Genug, es fehlen an dem von dem Verfasser „durch¬
dachten Organismus" so wichtige Glieder, daß das Ganze nothwendig als
eine Mißgeburt erscheint, wenn man es, wie der Verfasser doch wünscht, als
ein Ganzes betrachten will.

Allerdings macht der Verfasser seine Leser schon in der Vorrede auf eine
solche Unverhältnißmäßigkeit in der Bearbeitung der einzelnen Abschnitte ge¬
saßt. Er sagt: „Das Ganze wird die strengste Gleichförmigkeit des Sinnes
beherrschen, während umgekehrt die Ungleichheit des Styles und der Be¬
handlung innerhalb jedes einzelnen Bandes beim Wechsel der mannigfachen
Materien sich geltend machen werden." Diese Ungleichheit der Behandlung ist
indessen denn doch zu ausfallend. In dem Abschnitt „Wissenschaft und gelehrte
Forschung", bei welchem übrigens der Leser, beiläufig bemerkt, nicht erfährt,
wodurch sich die Wissenschaft von der gelehrten Forschung unterscheidet, ist der
Geschichte der deutschen Philosophie ein sehr viel größerer Raum (53 Seiten)
gewidmet, als der Geschichte aller andern Wissenschaften zusammen (40 Seiten.)
Bei Gelegenheit Schellings gibt der Verfasser eine allgemeine und aus¬
führliche Charakteristik der Naturphilosophie, während er bei der Geschichte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/228>, abgerufen am 25.08.2024.