Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht, obgleich er doch versichert, "der Organismus und die Gliederung des
ungeheuren Materials seien lange durchdacht." Wir meinen, man könne
mit demselben Rechte von einer organischen Gliederung des Materials in
einem alphabetisch geordneten Conversationslexicon sprechen. Nachschlage¬
bücher dieser Art aber haben gar nicht den Anspruch, ein Ganzes, ein System,
eine qualitative Leistung zu sein; sie enthalten und bieten Material und das
ist genug. Ebenso liefert der Verfasser des vorliegenden Werkes keine Grund¬
steine, sondern Bausteine, keinen Plan zu einem Gebäude, sondern nur hier
und da brauchbares Rohmaterial. Ebenso wenig wie ein Lager von Bal¬
ken, Brettern und Ziegeln etwas ist, worauf man "weiterbauen" kann, ist
Herr Honegger als Systematiker der Culturgeschichte des neunzehnten Jahr¬
hunderts anzusehen, wenn er sich auch dafür ausgiebt.

Es bedarf in der That nur geringen Nachdenkens, um einzusehen, daß
jedes Gebiet der Culturgeschichte seine eigene Periodisirung haben müsse.
Für die politische Entwickelung, welche wir natürlich als einen Theil der
Culturgeschichte ansehen, sind jene Zeitpunkte 181S und 1830 epochemachend,
für andere Gebiete keineswegs. Auf dem Gebiete der politischen Geschichte
sind die Jahre 1830 und 1848 Revolutionsjahre; auf dem Gebiete der Ge¬
schichte der Theologie ist etwa das Jahr 1833 ein Revolutionsjahr, als der
Zeitpunkt des Erscheinens von David Strauß' Leben Jesu; der Sturz Napoleons
in den Jahren 1814 und 1815 ist für die politische Geschichte verhängnißvoll ge¬
wesen, aber obgleich Beethovens Eroica mit Napoleon zusammenhängen soll,
sind denn doch diese Jahre in der Geschichte der Musik nicht so wichtig als
etwa die Jahre des Erscheinens der beliebtesten Opern Rossinis oder der gro߬
artigsten Symphonieen Beethovens, für die Geschichte der Baumwollindustrie
ist das Jahr 1792 als der Zeitpunkt der Erfindung des mechanischen Web-
stuhls durch Cortwright wichtiger als die auf dem Gebiete der politischen Ge¬
schichte hervorragenden Jahre 1789, 181S, 1830; das Jahr 18S0 als der
Zeitpunkt des Erscheinens von Schleiden's "Grundsätze einer wissenschaft¬
lichen Botanik" ist für die Geschichte der Botanik wichtiger als das Jahr
1848 mit all' seinen politischen Stürmen und Krisen, u. tgi. in.

Wir Protestiren daher gegen eine so willkürliche und dilettantische Peri¬
odisirung einer "Allgemeinen Kulturgeschichte", wie sie in Honegger's Werk
angetroffen wird, und verwerfen dieselbe als eine durchaus unwissenschaftliche.
Dagegen halten wir die Forderung aufrecht, daß in einer "Allgemeinen
Culturgeschichte" auf den Zusammenhang der Entwickelung auf verschiedenen
Culturgebieten hingewiesen werde. Die Jdealisirung des Mittelalters be.
gegnet uns sowohl auf politischem Gebiete als aus dem der schönen Literatur
-- die Classicität der Malerei eines David erinnert ebenso wie manche politische
Institution Napoleons I. an die Vorliebe, mit welcher das achtzehnte Jahr-


Grenzboten ni. 186". 28

nicht, obgleich er doch versichert, „der Organismus und die Gliederung des
ungeheuren Materials seien lange durchdacht." Wir meinen, man könne
mit demselben Rechte von einer organischen Gliederung des Materials in
einem alphabetisch geordneten Conversationslexicon sprechen. Nachschlage¬
bücher dieser Art aber haben gar nicht den Anspruch, ein Ganzes, ein System,
eine qualitative Leistung zu sein; sie enthalten und bieten Material und das
ist genug. Ebenso liefert der Verfasser des vorliegenden Werkes keine Grund¬
steine, sondern Bausteine, keinen Plan zu einem Gebäude, sondern nur hier
und da brauchbares Rohmaterial. Ebenso wenig wie ein Lager von Bal¬
ken, Brettern und Ziegeln etwas ist, worauf man „weiterbauen" kann, ist
Herr Honegger als Systematiker der Culturgeschichte des neunzehnten Jahr¬
hunderts anzusehen, wenn er sich auch dafür ausgiebt.

Es bedarf in der That nur geringen Nachdenkens, um einzusehen, daß
jedes Gebiet der Culturgeschichte seine eigene Periodisirung haben müsse.
Für die politische Entwickelung, welche wir natürlich als einen Theil der
Culturgeschichte ansehen, sind jene Zeitpunkte 181S und 1830 epochemachend,
für andere Gebiete keineswegs. Auf dem Gebiete der politischen Geschichte
sind die Jahre 1830 und 1848 Revolutionsjahre; auf dem Gebiete der Ge¬
schichte der Theologie ist etwa das Jahr 1833 ein Revolutionsjahr, als der
Zeitpunkt des Erscheinens von David Strauß' Leben Jesu; der Sturz Napoleons
in den Jahren 1814 und 1815 ist für die politische Geschichte verhängnißvoll ge¬
wesen, aber obgleich Beethovens Eroica mit Napoleon zusammenhängen soll,
sind denn doch diese Jahre in der Geschichte der Musik nicht so wichtig als
etwa die Jahre des Erscheinens der beliebtesten Opern Rossinis oder der gro߬
artigsten Symphonieen Beethovens, für die Geschichte der Baumwollindustrie
ist das Jahr 1792 als der Zeitpunkt der Erfindung des mechanischen Web-
stuhls durch Cortwright wichtiger als die auf dem Gebiete der politischen Ge¬
schichte hervorragenden Jahre 1789, 181S, 1830; das Jahr 18S0 als der
Zeitpunkt des Erscheinens von Schleiden's „Grundsätze einer wissenschaft¬
lichen Botanik" ist für die Geschichte der Botanik wichtiger als das Jahr
1848 mit all' seinen politischen Stürmen und Krisen, u. tgi. in.

Wir Protestiren daher gegen eine so willkürliche und dilettantische Peri¬
odisirung einer „Allgemeinen Kulturgeschichte", wie sie in Honegger's Werk
angetroffen wird, und verwerfen dieselbe als eine durchaus unwissenschaftliche.
Dagegen halten wir die Forderung aufrecht, daß in einer „Allgemeinen
Culturgeschichte" auf den Zusammenhang der Entwickelung auf verschiedenen
Culturgebieten hingewiesen werde. Die Jdealisirung des Mittelalters be.
gegnet uns sowohl auf politischem Gebiete als aus dem der schönen Literatur
— die Classicität der Malerei eines David erinnert ebenso wie manche politische
Institution Napoleons I. an die Vorliebe, mit welcher das achtzehnte Jahr-


Grenzboten ni. 186». 28
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0225" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121446"/>
          <p xml:id="ID_751" prev="#ID_750"> nicht, obgleich er doch versichert, &#x201E;der Organismus und die Gliederung des<lb/>
ungeheuren Materials seien lange durchdacht." Wir meinen, man könne<lb/>
mit demselben Rechte von einer organischen Gliederung des Materials in<lb/>
einem alphabetisch geordneten Conversationslexicon sprechen. Nachschlage¬<lb/>
bücher dieser Art aber haben gar nicht den Anspruch, ein Ganzes, ein System,<lb/>
eine qualitative Leistung zu sein; sie enthalten und bieten Material und das<lb/>
ist genug. Ebenso liefert der Verfasser des vorliegenden Werkes keine Grund¬<lb/>
steine, sondern Bausteine, keinen Plan zu einem Gebäude, sondern nur hier<lb/>
und da brauchbares Rohmaterial. Ebenso wenig wie ein Lager von Bal¬<lb/>
ken, Brettern und Ziegeln etwas ist, worauf man &#x201E;weiterbauen" kann, ist<lb/>
Herr Honegger als Systematiker der Culturgeschichte des neunzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts anzusehen, wenn er sich auch dafür ausgiebt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_752"> Es bedarf in der That nur geringen Nachdenkens, um einzusehen, daß<lb/>
jedes Gebiet der Culturgeschichte seine eigene Periodisirung haben müsse.<lb/>
Für die politische Entwickelung, welche wir natürlich als einen Theil der<lb/>
Culturgeschichte ansehen, sind jene Zeitpunkte 181S und 1830 epochemachend,<lb/>
für andere Gebiete keineswegs.  Auf dem Gebiete der politischen Geschichte<lb/>
sind die Jahre 1830 und 1848 Revolutionsjahre; auf dem Gebiete der Ge¬<lb/>
schichte der Theologie ist etwa das Jahr 1833 ein Revolutionsjahr, als der<lb/>
Zeitpunkt des Erscheinens von David Strauß' Leben Jesu; der Sturz Napoleons<lb/>
in den Jahren 1814 und 1815 ist für die politische Geschichte verhängnißvoll ge¬<lb/>
wesen, aber obgleich Beethovens Eroica mit Napoleon zusammenhängen soll,<lb/>
sind denn doch diese Jahre in der Geschichte der Musik nicht so wichtig als<lb/>
etwa die Jahre des Erscheinens der beliebtesten Opern Rossinis oder der gro߬<lb/>
artigsten Symphonieen Beethovens, für die Geschichte der Baumwollindustrie<lb/>
ist das Jahr 1792 als der Zeitpunkt der Erfindung des mechanischen Web-<lb/>
stuhls durch Cortwright wichtiger als die auf dem Gebiete der politischen Ge¬<lb/>
schichte hervorragenden Jahre 1789, 181S, 1830; das Jahr 18S0 als der<lb/>
Zeitpunkt des Erscheinens von Schleiden's &#x201E;Grundsätze einer wissenschaft¬<lb/>
lichen Botanik" ist für die Geschichte der Botanik wichtiger als das Jahr<lb/>
1848 mit all' seinen politischen Stürmen und Krisen, u. tgi. in.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_753" next="#ID_754"> Wir Protestiren daher gegen eine so willkürliche und dilettantische Peri¬<lb/>
odisirung einer &#x201E;Allgemeinen Kulturgeschichte", wie sie in Honegger's Werk<lb/>
angetroffen wird, und verwerfen dieselbe als eine durchaus unwissenschaftliche.<lb/>
Dagegen halten wir die Forderung aufrecht, daß in einer &#x201E;Allgemeinen<lb/>
Culturgeschichte" auf den Zusammenhang der Entwickelung auf verschiedenen<lb/>
Culturgebieten hingewiesen werde. Die Jdealisirung des Mittelalters be.<lb/>
gegnet uns sowohl auf politischem Gebiete als aus dem der schönen Literatur<lb/>
&#x2014; die Classicität der Malerei eines David erinnert ebenso wie manche politische<lb/>
Institution Napoleons I. an die Vorliebe, mit welcher das achtzehnte Jahr-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten ni. 186». 28</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0225] nicht, obgleich er doch versichert, „der Organismus und die Gliederung des ungeheuren Materials seien lange durchdacht." Wir meinen, man könne mit demselben Rechte von einer organischen Gliederung des Materials in einem alphabetisch geordneten Conversationslexicon sprechen. Nachschlage¬ bücher dieser Art aber haben gar nicht den Anspruch, ein Ganzes, ein System, eine qualitative Leistung zu sein; sie enthalten und bieten Material und das ist genug. Ebenso liefert der Verfasser des vorliegenden Werkes keine Grund¬ steine, sondern Bausteine, keinen Plan zu einem Gebäude, sondern nur hier und da brauchbares Rohmaterial. Ebenso wenig wie ein Lager von Bal¬ ken, Brettern und Ziegeln etwas ist, worauf man „weiterbauen" kann, ist Herr Honegger als Systematiker der Culturgeschichte des neunzehnten Jahr¬ hunderts anzusehen, wenn er sich auch dafür ausgiebt. Es bedarf in der That nur geringen Nachdenkens, um einzusehen, daß jedes Gebiet der Culturgeschichte seine eigene Periodisirung haben müsse. Für die politische Entwickelung, welche wir natürlich als einen Theil der Culturgeschichte ansehen, sind jene Zeitpunkte 181S und 1830 epochemachend, für andere Gebiete keineswegs. Auf dem Gebiete der politischen Geschichte sind die Jahre 1830 und 1848 Revolutionsjahre; auf dem Gebiete der Ge¬ schichte der Theologie ist etwa das Jahr 1833 ein Revolutionsjahr, als der Zeitpunkt des Erscheinens von David Strauß' Leben Jesu; der Sturz Napoleons in den Jahren 1814 und 1815 ist für die politische Geschichte verhängnißvoll ge¬ wesen, aber obgleich Beethovens Eroica mit Napoleon zusammenhängen soll, sind denn doch diese Jahre in der Geschichte der Musik nicht so wichtig als etwa die Jahre des Erscheinens der beliebtesten Opern Rossinis oder der gro߬ artigsten Symphonieen Beethovens, für die Geschichte der Baumwollindustrie ist das Jahr 1792 als der Zeitpunkt der Erfindung des mechanischen Web- stuhls durch Cortwright wichtiger als die auf dem Gebiete der politischen Ge¬ schichte hervorragenden Jahre 1789, 181S, 1830; das Jahr 18S0 als der Zeitpunkt des Erscheinens von Schleiden's „Grundsätze einer wissenschaft¬ lichen Botanik" ist für die Geschichte der Botanik wichtiger als das Jahr 1848 mit all' seinen politischen Stürmen und Krisen, u. tgi. in. Wir Protestiren daher gegen eine so willkürliche und dilettantische Peri¬ odisirung einer „Allgemeinen Kulturgeschichte", wie sie in Honegger's Werk angetroffen wird, und verwerfen dieselbe als eine durchaus unwissenschaftliche. Dagegen halten wir die Forderung aufrecht, daß in einer „Allgemeinen Culturgeschichte" auf den Zusammenhang der Entwickelung auf verschiedenen Culturgebieten hingewiesen werde. Die Jdealisirung des Mittelalters be. gegnet uns sowohl auf politischem Gebiete als aus dem der schönen Literatur — die Classicität der Malerei eines David erinnert ebenso wie manche politische Institution Napoleons I. an die Vorliebe, mit welcher das achtzehnte Jahr- Grenzboten ni. 186». 28

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/225
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/225>, abgerufen am 22.07.2024.