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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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tationem und Harmonien. Dennoch zeigt sich im Joeelyn Lamartine's Dichter¬
genius bereits als im Niedergange begriffen. Er selbst bezeichnet den Jvcelyn
als Episode eines großen umfassenden dichterischen Ganzen, welches die
Menschheit zum Gegenstande haben sollte. Schon das Ungemessene des
Planes zeigt, daß die epische Poesie nicht das Feld war, auf dem sein Dichter¬
geist sich mit vollem Erfolge entfalten konnte. Lamartine hat in Joeelyn
eine überaus einfache Handlung über die Maaßen weit ausgesponnen, und
trotz der Ausführlichkeit in den Schilderungen der inneren Seelenzustände des
Helden, gewinnen wir nicht einmal völlige Klarheit über die Motive des¬
selben. Lamartine's poetische Weltanschauung konnte eben nur in der Lyrik
zu Ausdruck gebracht werden.

Mit dem Joeelyn ist des Dichters Entwickelung abgeschlossen. Er ist über
den Standpunkt seiner glänzenden Jugendperiode hinausgewachsen. Die ein-
einsachen, aber kräftigen Stimmungen, die ihn zu dichterischer Thätigkeit
begeistert hatten, deren reflectirende Analyse recht eigentlich der Gegenstand
seiner Dichtung war, hatten sich erschöpft, ohne zu einer höheren Entwicke¬
lungsphase den Grund zu legen, seine späteren Dichtungen sind nur noch
schwache Nachklänge der früheren Periode. Von der Mitte der dreißiger
Jahre an hört Lamartine geradezu auf Dichter zu sein. Weder die phan¬
tastische Wildheit, zu welcher er sich in der "Wallfahrt nach dem Orient"
schraubt, jenem Buch, das in einer wollüstigen Trunkenheit geschrieben zu
sein scheint, welche recht eigentlich die Reaction gegen die spiritualistische
Empfindsamkeit der früheren Periode bildet, noch irgend eines seiner Gedichte
späterer Zeit haben die Bedeutung der Meditation erlangt oder in der Nation,
der sie bestimmt waren, wirklich Wurzel geschlagen. Dann folgten jene
unglücklichen Versuche des Dichters, zum Geschichtsschreiber zu werden, die
wenigstens außerhalb Frankreichs wesentlich dazu beitrugen, Lamartines Ruhm
zu schädigen, die literargeschichtliche Bedeutung seiner früheren Arbeiten in
Frage zu stellen und die sittlichen Schwächen seines Charakters blos zu legen.
Daß die Vorzüge des Styls und die Fähigkeit, auf historische Namen ge¬
tauften Ausgeburten dichterischer Phantasie den Schein geschichtlichen Lebens
zu geben, namentlich der Geschichte der Girondisten eine gewisse Popularität
gesichert und dieselbe auch außerhalb Frankreichs verbreitet haben, kann an
dem Urtheil nichts ändern, welches über diesen aufgeputzten historischen Ro¬
mane längst feststeht. Der Politiker und der Geschichtsschreiber Lamartine
haben ihr Möglichstes gethan, den Dichter von dem Platz, den er sich er¬
obert hatte und der ihm in der Geschichte der zwanziger und der dreißiger
Jahre gebührte, zu verdrängen -- dessen zu geschweige", daß die National¬
betteleien, die er sich am Abend seines Lebens gefallen ließ, zu den stolzen
Anfängen seiner Jugend in peinlichen Contrast stehen und den weltver-


tationem und Harmonien. Dennoch zeigt sich im Joeelyn Lamartine's Dichter¬
genius bereits als im Niedergange begriffen. Er selbst bezeichnet den Jvcelyn
als Episode eines großen umfassenden dichterischen Ganzen, welches die
Menschheit zum Gegenstande haben sollte. Schon das Ungemessene des
Planes zeigt, daß die epische Poesie nicht das Feld war, auf dem sein Dichter¬
geist sich mit vollem Erfolge entfalten konnte. Lamartine hat in Joeelyn
eine überaus einfache Handlung über die Maaßen weit ausgesponnen, und
trotz der Ausführlichkeit in den Schilderungen der inneren Seelenzustände des
Helden, gewinnen wir nicht einmal völlige Klarheit über die Motive des¬
selben. Lamartine's poetische Weltanschauung konnte eben nur in der Lyrik
zu Ausdruck gebracht werden.

Mit dem Joeelyn ist des Dichters Entwickelung abgeschlossen. Er ist über
den Standpunkt seiner glänzenden Jugendperiode hinausgewachsen. Die ein-
einsachen, aber kräftigen Stimmungen, die ihn zu dichterischer Thätigkeit
begeistert hatten, deren reflectirende Analyse recht eigentlich der Gegenstand
seiner Dichtung war, hatten sich erschöpft, ohne zu einer höheren Entwicke¬
lungsphase den Grund zu legen, seine späteren Dichtungen sind nur noch
schwache Nachklänge der früheren Periode. Von der Mitte der dreißiger
Jahre an hört Lamartine geradezu auf Dichter zu sein. Weder die phan¬
tastische Wildheit, zu welcher er sich in der „Wallfahrt nach dem Orient"
schraubt, jenem Buch, das in einer wollüstigen Trunkenheit geschrieben zu
sein scheint, welche recht eigentlich die Reaction gegen die spiritualistische
Empfindsamkeit der früheren Periode bildet, noch irgend eines seiner Gedichte
späterer Zeit haben die Bedeutung der Meditation erlangt oder in der Nation,
der sie bestimmt waren, wirklich Wurzel geschlagen. Dann folgten jene
unglücklichen Versuche des Dichters, zum Geschichtsschreiber zu werden, die
wenigstens außerhalb Frankreichs wesentlich dazu beitrugen, Lamartines Ruhm
zu schädigen, die literargeschichtliche Bedeutung seiner früheren Arbeiten in
Frage zu stellen und die sittlichen Schwächen seines Charakters blos zu legen.
Daß die Vorzüge des Styls und die Fähigkeit, auf historische Namen ge¬
tauften Ausgeburten dichterischer Phantasie den Schein geschichtlichen Lebens
zu geben, namentlich der Geschichte der Girondisten eine gewisse Popularität
gesichert und dieselbe auch außerhalb Frankreichs verbreitet haben, kann an
dem Urtheil nichts ändern, welches über diesen aufgeputzten historischen Ro¬
mane längst feststeht. Der Politiker und der Geschichtsschreiber Lamartine
haben ihr Möglichstes gethan, den Dichter von dem Platz, den er sich er¬
obert hatte und der ihm in der Geschichte der zwanziger und der dreißiger
Jahre gebührte, zu verdrängen — dessen zu geschweige«, daß die National¬
betteleien, die er sich am Abend seines Lebens gefallen ließ, zu den stolzen
Anfängen seiner Jugend in peinlichen Contrast stehen und den weltver-


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[0199] tationem und Harmonien. Dennoch zeigt sich im Joeelyn Lamartine's Dichter¬ genius bereits als im Niedergange begriffen. Er selbst bezeichnet den Jvcelyn als Episode eines großen umfassenden dichterischen Ganzen, welches die Menschheit zum Gegenstande haben sollte. Schon das Ungemessene des Planes zeigt, daß die epische Poesie nicht das Feld war, auf dem sein Dichter¬ geist sich mit vollem Erfolge entfalten konnte. Lamartine hat in Joeelyn eine überaus einfache Handlung über die Maaßen weit ausgesponnen, und trotz der Ausführlichkeit in den Schilderungen der inneren Seelenzustände des Helden, gewinnen wir nicht einmal völlige Klarheit über die Motive des¬ selben. Lamartine's poetische Weltanschauung konnte eben nur in der Lyrik zu Ausdruck gebracht werden. Mit dem Joeelyn ist des Dichters Entwickelung abgeschlossen. Er ist über den Standpunkt seiner glänzenden Jugendperiode hinausgewachsen. Die ein- einsachen, aber kräftigen Stimmungen, die ihn zu dichterischer Thätigkeit begeistert hatten, deren reflectirende Analyse recht eigentlich der Gegenstand seiner Dichtung war, hatten sich erschöpft, ohne zu einer höheren Entwicke¬ lungsphase den Grund zu legen, seine späteren Dichtungen sind nur noch schwache Nachklänge der früheren Periode. Von der Mitte der dreißiger Jahre an hört Lamartine geradezu auf Dichter zu sein. Weder die phan¬ tastische Wildheit, zu welcher er sich in der „Wallfahrt nach dem Orient" schraubt, jenem Buch, das in einer wollüstigen Trunkenheit geschrieben zu sein scheint, welche recht eigentlich die Reaction gegen die spiritualistische Empfindsamkeit der früheren Periode bildet, noch irgend eines seiner Gedichte späterer Zeit haben die Bedeutung der Meditation erlangt oder in der Nation, der sie bestimmt waren, wirklich Wurzel geschlagen. Dann folgten jene unglücklichen Versuche des Dichters, zum Geschichtsschreiber zu werden, die wenigstens außerhalb Frankreichs wesentlich dazu beitrugen, Lamartines Ruhm zu schädigen, die literargeschichtliche Bedeutung seiner früheren Arbeiten in Frage zu stellen und die sittlichen Schwächen seines Charakters blos zu legen. Daß die Vorzüge des Styls und die Fähigkeit, auf historische Namen ge¬ tauften Ausgeburten dichterischer Phantasie den Schein geschichtlichen Lebens zu geben, namentlich der Geschichte der Girondisten eine gewisse Popularität gesichert und dieselbe auch außerhalb Frankreichs verbreitet haben, kann an dem Urtheil nichts ändern, welches über diesen aufgeputzten historischen Ro¬ mane längst feststeht. Der Politiker und der Geschichtsschreiber Lamartine haben ihr Möglichstes gethan, den Dichter von dem Platz, den er sich er¬ obert hatte und der ihm in der Geschichte der zwanziger und der dreißiger Jahre gebührte, zu verdrängen — dessen zu geschweige«, daß die National¬ betteleien, die er sich am Abend seines Lebens gefallen ließ, zu den stolzen Anfängen seiner Jugend in peinlichen Contrast stehen und den weltver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/199>, abgerufen am 01.07.2024.