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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Verbrechen und fordert von ihm Entsagung; Jocelyn weigert sich lange.
Aber die leidenschaftliche, wilde Beredsamkeit des Bischofs, erschüttert, man
kann kaum sagen seinen Willen, sondern seiner Nerven. Willenlos, wie von
einer magischen Gewalt gezwungen, sinkt er vor ihm in die Knie und nach¬
dem er in diesem Zustande der Gebundenheit, der Bezauberung die Weihe
empfangen, steht er als Priester auf -- und das Drama seiner Liebe ist
zu Ende.

Es ist ersichtlich, daß sich in dieser erschütternden Katastrophe der Fehler
der Einleitung in etwas veränderter Gestalt wiederholt. Ließ den Leser die
Einleitung über Jocelyn's Motiv in Zweifel, so gewinnt man hier den Ein¬
druck, daß er ganz ohne Motiv gehandelt, daß er willenlos, betäubt sein
Schicksal über sich hat ergehen lassen. Sein ferneres Leben ist eine fort¬
gesetzte von beständigen inneren Kämpfen unterbrochene Resignation. Jocelyn
sieht die Geliebte ohne von ihr bemerkt zu werden, in Paris als gefeierte
in das frivole Treiben der Hauptstadt versunkene Weltdame wieder. Er
belauscht sie als sie nach einem brausenden Feste in der Stille der Nacht auf
den Balkon ihres Hotels tritt. Sie flüstert seinen Namen; ihre Liebe zu ihm
ist unverändert geblieben; sie stürzt sich in den Strudel der Vergnügungen
nur. um das peinigende Gefühl ihres Seelenschmerzes zu betäuben. Sein
Gelübde hindert ihn, sie zu retten. Unter nagenden Vorwürfen wegen der
Schwäche, die er in der entscheidenden Stunde dem Bischof gegenüber ge¬
zeigt, kehrt er in seine Gebirgspfarre zurück. Er waltet seines Amtes als

treuer Hirte seiner Heerde, als ein Vater der Armen; aber Nichts ver¬
mag seiner Brust den Frieden wiederzugeben. Da wird er eines Tages zu
einer schwer erkrankten Reisenden gerufen: im Dämmerlicht tritt er an ihr
Lager: er erkennt Laurence, hört ihre Beichte, erfährt aus ihrem Munde, daß
sie dem Geliebten ihrer Jugend im Herzen treu geblieben ist, daß sie sich er¬
löst fühlen würde, wenn sie nur noch einmal seine Stimme vernähme. Er
gibt sich zu erkennen, ertheilt ihr die Absolution, friedlich und versöhnt
scheidet sie aus dem Leben. Vor der Adlergrotte, neben dem Grabe ihres
Vaters findet sie ihre Ruhestätte und neben ihr Jocelyn, als er nach einer
langen Reihe von Jahren aus einem Leben voll Ergebung, Entsagung,
treuen Pflichterfüllung scheidet; aus einem Leben, auf das der friedliche Ab¬
schied der Geliebten, der er in der letzten Stunde Trost spendend zur Seite
gestanden hat. einen Strahl der Versöhnung und eines milden Friedens
wirft.

Unstreitig bezeichnet in manchen Beziehungen Jocelyn in der Entwicke¬
lung des Dichters einen Fortschritt. Die Schilderung hat an Klarheit und
Bestimmtheit gewonnen, die Freiheit und Leichtigkeit in der Beherrschung
der Form tritt fast noch bewunderungswürdiger hervor als in den Medi-


Verbrechen und fordert von ihm Entsagung; Jocelyn weigert sich lange.
Aber die leidenschaftliche, wilde Beredsamkeit des Bischofs, erschüttert, man
kann kaum sagen seinen Willen, sondern seiner Nerven. Willenlos, wie von
einer magischen Gewalt gezwungen, sinkt er vor ihm in die Knie und nach¬
dem er in diesem Zustande der Gebundenheit, der Bezauberung die Weihe
empfangen, steht er als Priester auf — und das Drama seiner Liebe ist
zu Ende.

Es ist ersichtlich, daß sich in dieser erschütternden Katastrophe der Fehler
der Einleitung in etwas veränderter Gestalt wiederholt. Ließ den Leser die
Einleitung über Jocelyn's Motiv in Zweifel, so gewinnt man hier den Ein¬
druck, daß er ganz ohne Motiv gehandelt, daß er willenlos, betäubt sein
Schicksal über sich hat ergehen lassen. Sein ferneres Leben ist eine fort¬
gesetzte von beständigen inneren Kämpfen unterbrochene Resignation. Jocelyn
sieht die Geliebte ohne von ihr bemerkt zu werden, in Paris als gefeierte
in das frivole Treiben der Hauptstadt versunkene Weltdame wieder. Er
belauscht sie als sie nach einem brausenden Feste in der Stille der Nacht auf
den Balkon ihres Hotels tritt. Sie flüstert seinen Namen; ihre Liebe zu ihm
ist unverändert geblieben; sie stürzt sich in den Strudel der Vergnügungen
nur. um das peinigende Gefühl ihres Seelenschmerzes zu betäuben. Sein
Gelübde hindert ihn, sie zu retten. Unter nagenden Vorwürfen wegen der
Schwäche, die er in der entscheidenden Stunde dem Bischof gegenüber ge¬
zeigt, kehrt er in seine Gebirgspfarre zurück. Er waltet seines Amtes als

treuer Hirte seiner Heerde, als ein Vater der Armen; aber Nichts ver¬
mag seiner Brust den Frieden wiederzugeben. Da wird er eines Tages zu
einer schwer erkrankten Reisenden gerufen: im Dämmerlicht tritt er an ihr
Lager: er erkennt Laurence, hört ihre Beichte, erfährt aus ihrem Munde, daß
sie dem Geliebten ihrer Jugend im Herzen treu geblieben ist, daß sie sich er¬
löst fühlen würde, wenn sie nur noch einmal seine Stimme vernähme. Er
gibt sich zu erkennen, ertheilt ihr die Absolution, friedlich und versöhnt
scheidet sie aus dem Leben. Vor der Adlergrotte, neben dem Grabe ihres
Vaters findet sie ihre Ruhestätte und neben ihr Jocelyn, als er nach einer
langen Reihe von Jahren aus einem Leben voll Ergebung, Entsagung,
treuen Pflichterfüllung scheidet; aus einem Leben, auf das der friedliche Ab¬
schied der Geliebten, der er in der letzten Stunde Trost spendend zur Seite
gestanden hat. einen Strahl der Versöhnung und eines milden Friedens
wirft.

Unstreitig bezeichnet in manchen Beziehungen Jocelyn in der Entwicke¬
lung des Dichters einen Fortschritt. Die Schilderung hat an Klarheit und
Bestimmtheit gewonnen, die Freiheit und Leichtigkeit in der Beherrschung
der Form tritt fast noch bewunderungswürdiger hervor als in den Medi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/198>, abgerufen am 03.07.2024.