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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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stirbt; mit dem kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling von mädchen¬
hafter Schönheit und Anmuth knüpft er ein Freundschaftsband, welches von
Tage zu Tage an Innigkeit zunimmt. Die Freundschaft Jocelyn's nimmt
bald einen so schwärmerischen, leidenschaftlichen Charakter an. daß wir uns
peinlich berührt fühlen würden, wenn wir nicht ahnten, daß Laurence ein
Mädchen ist. Meisterhaft geschildert ist dieses Keimen und allmälige Wachsen
der Leidenschaft, die alle Symptome der Liebe an sich trägt, während Jocelyn
sie noch als Ausdruck inniger Freundschaft für seinen jugendlichen Gefährten
hält. So unbefangen ist Jocelyn, daß auch Laurences leidenschaftliche An¬
hänglichkeit, die durch ihre jungfräuliche Zurückhaltung hindurch blickt, ihm
nur als liebevolle Hingebung eines jüngeren Bruders erscheint, der in dem
älteren Bruder seine einzige Stütze hat, seiner Leitung und Belehrung be¬
darf und sich ihm mit unbedingtem Vertrauen anschließt und unterordnet.
Nur in einzelnen Momenten, wenn Laurences leidenschaftliche Natur die
Fesseln der Zurückhaltung zu durchbrechen droht, durchzuckt ihn die Ahnung,


<Zus ootts ü.ins, xrotonäo ü, l'ohn cui 1a, roZarcle-
?g.it aiinor ot trömir! et an'it kaut xi'Lnäo Zarclo.

Die Schilderung dieser Situation ist reich an unvergleichlicher Schönheit;
aber für die Bedenklichkeit des Verhältnisses ist sie doch zu gedehnt. Der
Leser sehnt sich nach einer rascheren Lösung des Knoten, und athmet auf,
als sie endlich durch Zufall herbeigeführt wird. Sobald Jocelyn das Ge¬
schlecht der bei einem Schneesturm, als sie um ihn zu suchen der Gewalt
des furchtbarsten Unwetters trotzte, verwundeten Laurence erkennt, wird
er sich sofort seiner Liebe bewußt. 6<ztts aveugls u>midi6 n'"ztg,it M'un toi
amour. Er liebt und wird mit leidenschaftlicher Gluth geliebt. Lange
kämpfen Pflicht und Liebe in ihm. Endlich trägt die Liebe den Sieg davon;
er entschließt sich, sobald ihrer beider Sicherheit dies gestattet, an ihrer
Seite ins Leben zurückzukehren. In der sicheren Zuversicht ihrer nahen Ver¬
bindung genießen sie in vollen Strömen die Reize des Frühjahrs und Sommers
in ihrer Einsamkeit, als Jocelyn eines Tages von dem Hirten aufgefordert
wird, seinen alten in einer benachbarten Stadt eingekerkerten und zum Tode
verurtheilten Bischof, den frühern Vorsteher seines Seminars zu besuchen. Er
folgt der Einladung, erstarrt aber vor Schrecken, als der Bischof ihn auffordert
sich zum Priester weihen zu lassen, um ihn dann mit den Sterbesakramenten zu
versehen. Nach einem kurzen aber heftigen inneren Kampfe entschließt er sich,
seinem Herzen zu folgen und dem Laurence gegebenen Worte treu zu bleiben:
er offenbart dem Bischof das Geheimniß seiner Liebe. Der Greis, in dem
sich der Glaubenseifer bis zum Fanatismus steigert, weit entfernt seine
Liebe als Entschuldigung gelten zu lassen, betrachtet sie vielmehr als ein


stirbt; mit dem kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling von mädchen¬
hafter Schönheit und Anmuth knüpft er ein Freundschaftsband, welches von
Tage zu Tage an Innigkeit zunimmt. Die Freundschaft Jocelyn's nimmt
bald einen so schwärmerischen, leidenschaftlichen Charakter an. daß wir uns
peinlich berührt fühlen würden, wenn wir nicht ahnten, daß Laurence ein
Mädchen ist. Meisterhaft geschildert ist dieses Keimen und allmälige Wachsen
der Leidenschaft, die alle Symptome der Liebe an sich trägt, während Jocelyn
sie noch als Ausdruck inniger Freundschaft für seinen jugendlichen Gefährten
hält. So unbefangen ist Jocelyn, daß auch Laurences leidenschaftliche An¬
hänglichkeit, die durch ihre jungfräuliche Zurückhaltung hindurch blickt, ihm
nur als liebevolle Hingebung eines jüngeren Bruders erscheint, der in dem
älteren Bruder seine einzige Stütze hat, seiner Leitung und Belehrung be¬
darf und sich ihm mit unbedingtem Vertrauen anschließt und unterordnet.
Nur in einzelnen Momenten, wenn Laurences leidenschaftliche Natur die
Fesseln der Zurückhaltung zu durchbrechen droht, durchzuckt ihn die Ahnung,


<Zus ootts ü.ins, xrotonäo ü, l'ohn cui 1a, roZarcle-
?g.it aiinor ot trömir! et an'it kaut xi'Lnäo Zarclo.

Die Schilderung dieser Situation ist reich an unvergleichlicher Schönheit;
aber für die Bedenklichkeit des Verhältnisses ist sie doch zu gedehnt. Der
Leser sehnt sich nach einer rascheren Lösung des Knoten, und athmet auf,
als sie endlich durch Zufall herbeigeführt wird. Sobald Jocelyn das Ge¬
schlecht der bei einem Schneesturm, als sie um ihn zu suchen der Gewalt
des furchtbarsten Unwetters trotzte, verwundeten Laurence erkennt, wird
er sich sofort seiner Liebe bewußt. 6<ztts aveugls u>midi6 n'«ztg,it M'un toi
amour. Er liebt und wird mit leidenschaftlicher Gluth geliebt. Lange
kämpfen Pflicht und Liebe in ihm. Endlich trägt die Liebe den Sieg davon;
er entschließt sich, sobald ihrer beider Sicherheit dies gestattet, an ihrer
Seite ins Leben zurückzukehren. In der sicheren Zuversicht ihrer nahen Ver¬
bindung genießen sie in vollen Strömen die Reize des Frühjahrs und Sommers
in ihrer Einsamkeit, als Jocelyn eines Tages von dem Hirten aufgefordert
wird, seinen alten in einer benachbarten Stadt eingekerkerten und zum Tode
verurtheilten Bischof, den frühern Vorsteher seines Seminars zu besuchen. Er
folgt der Einladung, erstarrt aber vor Schrecken, als der Bischof ihn auffordert
sich zum Priester weihen zu lassen, um ihn dann mit den Sterbesakramenten zu
versehen. Nach einem kurzen aber heftigen inneren Kampfe entschließt er sich,
seinem Herzen zu folgen und dem Laurence gegebenen Worte treu zu bleiben:
er offenbart dem Bischof das Geheimniß seiner Liebe. Der Greis, in dem
sich der Glaubenseifer bis zum Fanatismus steigert, weit entfernt seine
Liebe als Entschuldigung gelten zu lassen, betrachtet sie vielmehr als ein


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[0197] stirbt; mit dem kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling von mädchen¬ hafter Schönheit und Anmuth knüpft er ein Freundschaftsband, welches von Tage zu Tage an Innigkeit zunimmt. Die Freundschaft Jocelyn's nimmt bald einen so schwärmerischen, leidenschaftlichen Charakter an. daß wir uns peinlich berührt fühlen würden, wenn wir nicht ahnten, daß Laurence ein Mädchen ist. Meisterhaft geschildert ist dieses Keimen und allmälige Wachsen der Leidenschaft, die alle Symptome der Liebe an sich trägt, während Jocelyn sie noch als Ausdruck inniger Freundschaft für seinen jugendlichen Gefährten hält. So unbefangen ist Jocelyn, daß auch Laurences leidenschaftliche An¬ hänglichkeit, die durch ihre jungfräuliche Zurückhaltung hindurch blickt, ihm nur als liebevolle Hingebung eines jüngeren Bruders erscheint, der in dem älteren Bruder seine einzige Stütze hat, seiner Leitung und Belehrung be¬ darf und sich ihm mit unbedingtem Vertrauen anschließt und unterordnet. Nur in einzelnen Momenten, wenn Laurences leidenschaftliche Natur die Fesseln der Zurückhaltung zu durchbrechen droht, durchzuckt ihn die Ahnung, <Zus ootts ü.ins, xrotonäo ü, l'ohn cui 1a, roZarcle- ?g.it aiinor ot trömir! et an'it kaut xi'Lnäo Zarclo. Die Schilderung dieser Situation ist reich an unvergleichlicher Schönheit; aber für die Bedenklichkeit des Verhältnisses ist sie doch zu gedehnt. Der Leser sehnt sich nach einer rascheren Lösung des Knoten, und athmet auf, als sie endlich durch Zufall herbeigeführt wird. Sobald Jocelyn das Ge¬ schlecht der bei einem Schneesturm, als sie um ihn zu suchen der Gewalt des furchtbarsten Unwetters trotzte, verwundeten Laurence erkennt, wird er sich sofort seiner Liebe bewußt. 6<ztts aveugls u>midi6 n'«ztg,it M'un toi amour. Er liebt und wird mit leidenschaftlicher Gluth geliebt. Lange kämpfen Pflicht und Liebe in ihm. Endlich trägt die Liebe den Sieg davon; er entschließt sich, sobald ihrer beider Sicherheit dies gestattet, an ihrer Seite ins Leben zurückzukehren. In der sicheren Zuversicht ihrer nahen Ver¬ bindung genießen sie in vollen Strömen die Reize des Frühjahrs und Sommers in ihrer Einsamkeit, als Jocelyn eines Tages von dem Hirten aufgefordert wird, seinen alten in einer benachbarten Stadt eingekerkerten und zum Tode verurtheilten Bischof, den frühern Vorsteher seines Seminars zu besuchen. Er folgt der Einladung, erstarrt aber vor Schrecken, als der Bischof ihn auffordert sich zum Priester weihen zu lassen, um ihn dann mit den Sterbesakramenten zu versehen. Nach einem kurzen aber heftigen inneren Kampfe entschließt er sich, seinem Herzen zu folgen und dem Laurence gegebenen Worte treu zu bleiben: er offenbart dem Bischof das Geheimniß seiner Liebe. Der Greis, in dem sich der Glaubenseifer bis zum Fanatismus steigert, weit entfernt seine Liebe als Entschuldigung gelten zu lassen, betrachtet sie vielmehr als ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/197>, abgerufen am 22.07.2024.