Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

reproducirenden Einbildungskraft des Lesers weniger bestimmte Umrisse bietet
als der verglichene Gegenstand selbst ohne jede Vergleichung ihm bieten
würde. Aber von diesen Einzelheiten abgesehen, sind die Schilderungen in
diesem Gedichte Meisterstücke poetischer Malerei, dem entsprechend, was wir
in der Malerkunst als Stimmungslandschaft zu bezeichnen Pflegen. Denn bei
allem Streben nach realistischer Naturtreue kommt doch (was wir keineswegs
als Fehler bezeichnen wollen) in jedem Bilde die Stimmung des schildern¬
den zum Durchbruch, und so wenig wie in der Erzählung verleugnet der
Dichter in der Schilderung die lyrische Natur seiner Begabung.

Der Held der Erzählung, Jocelyn, der mit allen geistigen und körper¬
lichen Vorzügen ausgestattete Sohn einer mäßig bemittelten Wittwe, faßt,
um seinen Antheil an der väterlichen Erbschaft seiner Schwester zuzuwenden
und dadurch deren Verheirathung mit dem Sohn eines wohlhabenden Nach¬
barn zu ermöglichen, den Entschluß in den geistlichen Stand zu treten. Alle
Bemühungen der Mutter, die von dem eigentlichen Motive seines Entschlusses
keine Ahnung hat, ihn von dem verhängnißvollen Schritte zurückzuhalten,
sind vergeblich. Er weist alle Einwendungen mit der Hinweisung auf den
inneren Beruf, der ihn zum geistlichen Stande ziehe, zurück. Wird nun --
diese Frage drängt sich dem Leser unwillkürlich auf -- der Held wirklich durch
einen inneren Beruf zum geistlichen Stande hingezogen, oder ist seine Welt¬
entsagung nur ein edelmüthiges Opfer, welches er dem Lebensglück seiner
Schwester bringt? Ueber diesen Punkt läßt uns der Dichter in Ungewi߬
heit, und auch der Verlauf der Erzählung gibt über denselben keine volle
Aufklärung. Ist es die Gewalt des inneren Berufes, einer mächtigen Be¬
geisterung oder nur die Gewissenhaftigkeit in der Bewahrung seines Ge¬
lübdes, die Jocelyn später in dem Kampfe gegen die tiefe Neigung seines
Herzens unterstützt? Der Dichter scheint das Erstere zu wollen, der Leser
dagegen gewinnt den Eindruck, daß nur die Gewissenhaftigkeit, keineswegs
die Begeisterung für den geistlichen Beruf, mit seiner Liebe kämpft; und es
läßt sich nicht leugnen, daß in dieser Ungewißheit ein großer Fehler des
Gedichtes liegt.

Die Stürme der Revolution vertreiben Jocelyn, noch ehe er die Weihen
empfangen hat, aus dem Seminar. Hoch in den Alpen der Dauphins findet
er in einer Höhle, der Adlergrotte, einen Zufluchtsort, der nur einem alten
Hirten bekannt ist. Der Hirt versorgt ihn von Zeit zu Zeit mit Lebens¬
mitteln und durch ihn allein steht er mit der Außenwelt in Verbindung.

Nachdem er noch nicht lange in dieser furchtbaren, aber an erhabener
Schönheit reichen Wildniß verweilt hat, gelingt es ihm, zwei Flüchtlinge,
Vater und Sohn, den Händen verfolgender Nationalgardisten zu entreißen
und in seinem sicherem Versteck zu verbergen. Der Vater, tödtlich verwundet,


reproducirenden Einbildungskraft des Lesers weniger bestimmte Umrisse bietet
als der verglichene Gegenstand selbst ohne jede Vergleichung ihm bieten
würde. Aber von diesen Einzelheiten abgesehen, sind die Schilderungen in
diesem Gedichte Meisterstücke poetischer Malerei, dem entsprechend, was wir
in der Malerkunst als Stimmungslandschaft zu bezeichnen Pflegen. Denn bei
allem Streben nach realistischer Naturtreue kommt doch (was wir keineswegs
als Fehler bezeichnen wollen) in jedem Bilde die Stimmung des schildern¬
den zum Durchbruch, und so wenig wie in der Erzählung verleugnet der
Dichter in der Schilderung die lyrische Natur seiner Begabung.

Der Held der Erzählung, Jocelyn, der mit allen geistigen und körper¬
lichen Vorzügen ausgestattete Sohn einer mäßig bemittelten Wittwe, faßt,
um seinen Antheil an der väterlichen Erbschaft seiner Schwester zuzuwenden
und dadurch deren Verheirathung mit dem Sohn eines wohlhabenden Nach¬
barn zu ermöglichen, den Entschluß in den geistlichen Stand zu treten. Alle
Bemühungen der Mutter, die von dem eigentlichen Motive seines Entschlusses
keine Ahnung hat, ihn von dem verhängnißvollen Schritte zurückzuhalten,
sind vergeblich. Er weist alle Einwendungen mit der Hinweisung auf den
inneren Beruf, der ihn zum geistlichen Stande ziehe, zurück. Wird nun —
diese Frage drängt sich dem Leser unwillkürlich auf — der Held wirklich durch
einen inneren Beruf zum geistlichen Stande hingezogen, oder ist seine Welt¬
entsagung nur ein edelmüthiges Opfer, welches er dem Lebensglück seiner
Schwester bringt? Ueber diesen Punkt läßt uns der Dichter in Ungewi߬
heit, und auch der Verlauf der Erzählung gibt über denselben keine volle
Aufklärung. Ist es die Gewalt des inneren Berufes, einer mächtigen Be¬
geisterung oder nur die Gewissenhaftigkeit in der Bewahrung seines Ge¬
lübdes, die Jocelyn später in dem Kampfe gegen die tiefe Neigung seines
Herzens unterstützt? Der Dichter scheint das Erstere zu wollen, der Leser
dagegen gewinnt den Eindruck, daß nur die Gewissenhaftigkeit, keineswegs
die Begeisterung für den geistlichen Beruf, mit seiner Liebe kämpft; und es
läßt sich nicht leugnen, daß in dieser Ungewißheit ein großer Fehler des
Gedichtes liegt.

Die Stürme der Revolution vertreiben Jocelyn, noch ehe er die Weihen
empfangen hat, aus dem Seminar. Hoch in den Alpen der Dauphins findet
er in einer Höhle, der Adlergrotte, einen Zufluchtsort, der nur einem alten
Hirten bekannt ist. Der Hirt versorgt ihn von Zeit zu Zeit mit Lebens¬
mitteln und durch ihn allein steht er mit der Außenwelt in Verbindung.

Nachdem er noch nicht lange in dieser furchtbaren, aber an erhabener
Schönheit reichen Wildniß verweilt hat, gelingt es ihm, zwei Flüchtlinge,
Vater und Sohn, den Händen verfolgender Nationalgardisten zu entreißen
und in seinem sicherem Versteck zu verbergen. Der Vater, tödtlich verwundet,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0196" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121417"/>
          <p xml:id="ID_583" prev="#ID_582"> reproducirenden Einbildungskraft des Lesers weniger bestimmte Umrisse bietet<lb/>
als der verglichene Gegenstand selbst ohne jede Vergleichung ihm bieten<lb/>
würde. Aber von diesen Einzelheiten abgesehen, sind die Schilderungen in<lb/>
diesem Gedichte Meisterstücke poetischer Malerei, dem entsprechend, was wir<lb/>
in der Malerkunst als Stimmungslandschaft zu bezeichnen Pflegen. Denn bei<lb/>
allem Streben nach realistischer Naturtreue kommt doch (was wir keineswegs<lb/>
als Fehler bezeichnen wollen) in jedem Bilde die Stimmung des schildern¬<lb/>
den zum Durchbruch, und so wenig wie in der Erzählung verleugnet der<lb/>
Dichter in der Schilderung die lyrische Natur seiner Begabung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_584"> Der Held der Erzählung, Jocelyn, der mit allen geistigen und körper¬<lb/>
lichen Vorzügen ausgestattete Sohn einer mäßig bemittelten Wittwe, faßt,<lb/>
um seinen Antheil an der väterlichen Erbschaft seiner Schwester zuzuwenden<lb/>
und dadurch deren Verheirathung mit dem Sohn eines wohlhabenden Nach¬<lb/>
barn zu ermöglichen, den Entschluß in den geistlichen Stand zu treten. Alle<lb/>
Bemühungen der Mutter, die von dem eigentlichen Motive seines Entschlusses<lb/>
keine Ahnung hat, ihn von dem verhängnißvollen Schritte zurückzuhalten,<lb/>
sind vergeblich. Er weist alle Einwendungen mit der Hinweisung auf den<lb/>
inneren Beruf, der ihn zum geistlichen Stande ziehe, zurück. Wird nun &#x2014;<lb/>
diese Frage drängt sich dem Leser unwillkürlich auf &#x2014; der Held wirklich durch<lb/>
einen inneren Beruf zum geistlichen Stande hingezogen, oder ist seine Welt¬<lb/>
entsagung nur ein edelmüthiges Opfer, welches er dem Lebensglück seiner<lb/>
Schwester bringt? Ueber diesen Punkt läßt uns der Dichter in Ungewi߬<lb/>
heit, und auch der Verlauf der Erzählung gibt über denselben keine volle<lb/>
Aufklärung. Ist es die Gewalt des inneren Berufes, einer mächtigen Be¬<lb/>
geisterung oder nur die Gewissenhaftigkeit in der Bewahrung seines Ge¬<lb/>
lübdes, die Jocelyn später in dem Kampfe gegen die tiefe Neigung seines<lb/>
Herzens unterstützt? Der Dichter scheint das Erstere zu wollen, der Leser<lb/>
dagegen gewinnt den Eindruck, daß nur die Gewissenhaftigkeit, keineswegs<lb/>
die Begeisterung für den geistlichen Beruf, mit seiner Liebe kämpft; und es<lb/>
läßt sich nicht leugnen, daß in dieser Ungewißheit ein großer Fehler des<lb/>
Gedichtes liegt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_585"> Die Stürme der Revolution vertreiben Jocelyn, noch ehe er die Weihen<lb/>
empfangen hat, aus dem Seminar. Hoch in den Alpen der Dauphins findet<lb/>
er in einer Höhle, der Adlergrotte, einen Zufluchtsort, der nur einem alten<lb/>
Hirten bekannt ist. Der Hirt versorgt ihn von Zeit zu Zeit mit Lebens¬<lb/>
mitteln und durch ihn allein steht er mit der Außenwelt in Verbindung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_586" next="#ID_587"> Nachdem er noch nicht lange in dieser furchtbaren, aber an erhabener<lb/>
Schönheit reichen Wildniß verweilt hat, gelingt es ihm, zwei Flüchtlinge,<lb/>
Vater und Sohn, den Händen verfolgender Nationalgardisten zu entreißen<lb/>
und in seinem sicherem Versteck zu verbergen. Der Vater, tödtlich verwundet,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0196] reproducirenden Einbildungskraft des Lesers weniger bestimmte Umrisse bietet als der verglichene Gegenstand selbst ohne jede Vergleichung ihm bieten würde. Aber von diesen Einzelheiten abgesehen, sind die Schilderungen in diesem Gedichte Meisterstücke poetischer Malerei, dem entsprechend, was wir in der Malerkunst als Stimmungslandschaft zu bezeichnen Pflegen. Denn bei allem Streben nach realistischer Naturtreue kommt doch (was wir keineswegs als Fehler bezeichnen wollen) in jedem Bilde die Stimmung des schildern¬ den zum Durchbruch, und so wenig wie in der Erzählung verleugnet der Dichter in der Schilderung die lyrische Natur seiner Begabung. Der Held der Erzählung, Jocelyn, der mit allen geistigen und körper¬ lichen Vorzügen ausgestattete Sohn einer mäßig bemittelten Wittwe, faßt, um seinen Antheil an der väterlichen Erbschaft seiner Schwester zuzuwenden und dadurch deren Verheirathung mit dem Sohn eines wohlhabenden Nach¬ barn zu ermöglichen, den Entschluß in den geistlichen Stand zu treten. Alle Bemühungen der Mutter, die von dem eigentlichen Motive seines Entschlusses keine Ahnung hat, ihn von dem verhängnißvollen Schritte zurückzuhalten, sind vergeblich. Er weist alle Einwendungen mit der Hinweisung auf den inneren Beruf, der ihn zum geistlichen Stande ziehe, zurück. Wird nun — diese Frage drängt sich dem Leser unwillkürlich auf — der Held wirklich durch einen inneren Beruf zum geistlichen Stande hingezogen, oder ist seine Welt¬ entsagung nur ein edelmüthiges Opfer, welches er dem Lebensglück seiner Schwester bringt? Ueber diesen Punkt läßt uns der Dichter in Ungewi߬ heit, und auch der Verlauf der Erzählung gibt über denselben keine volle Aufklärung. Ist es die Gewalt des inneren Berufes, einer mächtigen Be¬ geisterung oder nur die Gewissenhaftigkeit in der Bewahrung seines Ge¬ lübdes, die Jocelyn später in dem Kampfe gegen die tiefe Neigung seines Herzens unterstützt? Der Dichter scheint das Erstere zu wollen, der Leser dagegen gewinnt den Eindruck, daß nur die Gewissenhaftigkeit, keineswegs die Begeisterung für den geistlichen Beruf, mit seiner Liebe kämpft; und es läßt sich nicht leugnen, daß in dieser Ungewißheit ein großer Fehler des Gedichtes liegt. Die Stürme der Revolution vertreiben Jocelyn, noch ehe er die Weihen empfangen hat, aus dem Seminar. Hoch in den Alpen der Dauphins findet er in einer Höhle, der Adlergrotte, einen Zufluchtsort, der nur einem alten Hirten bekannt ist. Der Hirt versorgt ihn von Zeit zu Zeit mit Lebens¬ mitteln und durch ihn allein steht er mit der Außenwelt in Verbindung. Nachdem er noch nicht lange in dieser furchtbaren, aber an erhabener Schönheit reichen Wildniß verweilt hat, gelingt es ihm, zwei Flüchtlinge, Vater und Sohn, den Händen verfolgender Nationalgardisten zu entreißen und in seinem sicherem Versteck zu verbergen. Der Vater, tödtlich verwundet,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/196
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/196>, abgerufen am 25.08.2024.