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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Alphonse l>e Lamartine.

Die Zeit, in der Lamartine aus dem Leben geschieden ist, steht in schnei¬
dendem Gegensatz zu der Periode, in der er wie ein glänzendes, blendendes
Gestirn am Horizonte der französischen Literatur auftauchte: zu jener Periode
eines großartigen Aufschwungs, in welcher der Genius der französischen Li¬
teratur die Fesseln abwarf, die alle Stürme, welche über Frankreichs Boden
hinweggebraust waren, nicht zu lösen vermocht hatten. Die künstlerisch bil¬
dende Triebkraft, die während der langen Regierung Ludwigs XIV- zu voller
Entfaltung gelangt war und wenigstens in formaler Beziehung den literari¬
schen Erzeugnissen des 17ten Jahrhunderts den Stempel classischer Vollendung
aufgedrückt hatte, wirkte und schuf ungeschwächt auch noch während des 18ten
Jahrhunderts, freilich in anderem Geiste und auf ganz andere Ziele gerichtet,
als in der Zeit Ludwigs XIV. Aber die Form blieb im Wesentlichen die¬
selbe; die Sprache war zu einem Abschluß gelangt, den Gesetzen der Dar¬
stellung, welche das große Zeitalter der Literatur herausgearbeitet und als
bindende Norm festgestellt hatte, unterwarfen sich auch die Weltstürmer des
18ten Jahrhunderts. Die neue Weltanschauung kleidete sich in die alte
Form und fand grade dadurch in den höchsten Kreisen, in der vornehmsten
Gesellschaft Eingang. Mochte auch der zum Theil von germanischen Ein¬
flüssen angeregte neue Geist mit der alten zierlichen und steifen Form in
Widerspruch stehen, mochten in einzelnen Schriftstellern auch die Keime lite¬
rarischer Neugestaltung die Schranken des überlieferten Gesetzes zu durch¬
brechen streben, im Wesentlichen blieb die alte Regel herrschend, und selbst
von der romantisch angehauchten Denk- und Schreibart Rousseaus kann
man höchstens behaupten, daß sie die künftige literarische Revolution vor¬
bereitet habe.

Selbst die Revolution von 1789, so gewaltsam und erschütternd ihr
Verlauf auch war, hatte doch auf Kunst und Literatur einen nur verhältni߬
mäßig geringen Einfluß geübt. Sie hatte in gewissem Sinne die centrali-
sirende Arbeit der Könige vollendet und die Trümmer des mittelalterlichen
Staats, welche das Königthum, soweit es durch dieselben in seiner Allmacht
nicht beschränkt wurde, hatte bestehen lassen, für alle Zeiten in gewaltigen,
erschütternden Stößen weggefegt. Aber als der Sturm vorübergezogen war,
zeigte sich, daß seine Wirkungen auf den Volkscharakter doch nur oberfläch¬
liche gewesen waren und daß durch die Begebenheiten, welche die alte Gesell¬
schaft zertrümmert und auf das Princip der Gleichheit eine neue Gesellschaft
begründet hatten, nur die Staatsallmacht, die Abhängigkeit des Individuums


Grenzboten III. 186!). 23
Alphonse l>e Lamartine.

Die Zeit, in der Lamartine aus dem Leben geschieden ist, steht in schnei¬
dendem Gegensatz zu der Periode, in der er wie ein glänzendes, blendendes
Gestirn am Horizonte der französischen Literatur auftauchte: zu jener Periode
eines großartigen Aufschwungs, in welcher der Genius der französischen Li¬
teratur die Fesseln abwarf, die alle Stürme, welche über Frankreichs Boden
hinweggebraust waren, nicht zu lösen vermocht hatten. Die künstlerisch bil¬
dende Triebkraft, die während der langen Regierung Ludwigs XIV- zu voller
Entfaltung gelangt war und wenigstens in formaler Beziehung den literari¬
schen Erzeugnissen des 17ten Jahrhunderts den Stempel classischer Vollendung
aufgedrückt hatte, wirkte und schuf ungeschwächt auch noch während des 18ten
Jahrhunderts, freilich in anderem Geiste und auf ganz andere Ziele gerichtet,
als in der Zeit Ludwigs XIV. Aber die Form blieb im Wesentlichen die¬
selbe; die Sprache war zu einem Abschluß gelangt, den Gesetzen der Dar¬
stellung, welche das große Zeitalter der Literatur herausgearbeitet und als
bindende Norm festgestellt hatte, unterwarfen sich auch die Weltstürmer des
18ten Jahrhunderts. Die neue Weltanschauung kleidete sich in die alte
Form und fand grade dadurch in den höchsten Kreisen, in der vornehmsten
Gesellschaft Eingang. Mochte auch der zum Theil von germanischen Ein¬
flüssen angeregte neue Geist mit der alten zierlichen und steifen Form in
Widerspruch stehen, mochten in einzelnen Schriftstellern auch die Keime lite¬
rarischer Neugestaltung die Schranken des überlieferten Gesetzes zu durch¬
brechen streben, im Wesentlichen blieb die alte Regel herrschend, und selbst
von der romantisch angehauchten Denk- und Schreibart Rousseaus kann
man höchstens behaupten, daß sie die künftige literarische Revolution vor¬
bereitet habe.

Selbst die Revolution von 1789, so gewaltsam und erschütternd ihr
Verlauf auch war, hatte doch auf Kunst und Literatur einen nur verhältni߬
mäßig geringen Einfluß geübt. Sie hatte in gewissem Sinne die centrali-
sirende Arbeit der Könige vollendet und die Trümmer des mittelalterlichen
Staats, welche das Königthum, soweit es durch dieselben in seiner Allmacht
nicht beschränkt wurde, hatte bestehen lassen, für alle Zeiten in gewaltigen,
erschütternden Stößen weggefegt. Aber als der Sturm vorübergezogen war,
zeigte sich, daß seine Wirkungen auf den Volkscharakter doch nur oberfläch¬
liche gewesen waren und daß durch die Begebenheiten, welche die alte Gesell¬
schaft zertrümmert und auf das Princip der Gleichheit eine neue Gesellschaft
begründet hatten, nur die Staatsallmacht, die Abhängigkeit des Individuums


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[0185] Alphonse l>e Lamartine. Die Zeit, in der Lamartine aus dem Leben geschieden ist, steht in schnei¬ dendem Gegensatz zu der Periode, in der er wie ein glänzendes, blendendes Gestirn am Horizonte der französischen Literatur auftauchte: zu jener Periode eines großartigen Aufschwungs, in welcher der Genius der französischen Li¬ teratur die Fesseln abwarf, die alle Stürme, welche über Frankreichs Boden hinweggebraust waren, nicht zu lösen vermocht hatten. Die künstlerisch bil¬ dende Triebkraft, die während der langen Regierung Ludwigs XIV- zu voller Entfaltung gelangt war und wenigstens in formaler Beziehung den literari¬ schen Erzeugnissen des 17ten Jahrhunderts den Stempel classischer Vollendung aufgedrückt hatte, wirkte und schuf ungeschwächt auch noch während des 18ten Jahrhunderts, freilich in anderem Geiste und auf ganz andere Ziele gerichtet, als in der Zeit Ludwigs XIV. Aber die Form blieb im Wesentlichen die¬ selbe; die Sprache war zu einem Abschluß gelangt, den Gesetzen der Dar¬ stellung, welche das große Zeitalter der Literatur herausgearbeitet und als bindende Norm festgestellt hatte, unterwarfen sich auch die Weltstürmer des 18ten Jahrhunderts. Die neue Weltanschauung kleidete sich in die alte Form und fand grade dadurch in den höchsten Kreisen, in der vornehmsten Gesellschaft Eingang. Mochte auch der zum Theil von germanischen Ein¬ flüssen angeregte neue Geist mit der alten zierlichen und steifen Form in Widerspruch stehen, mochten in einzelnen Schriftstellern auch die Keime lite¬ rarischer Neugestaltung die Schranken des überlieferten Gesetzes zu durch¬ brechen streben, im Wesentlichen blieb die alte Regel herrschend, und selbst von der romantisch angehauchten Denk- und Schreibart Rousseaus kann man höchstens behaupten, daß sie die künftige literarische Revolution vor¬ bereitet habe. Selbst die Revolution von 1789, so gewaltsam und erschütternd ihr Verlauf auch war, hatte doch auf Kunst und Literatur einen nur verhältni߬ mäßig geringen Einfluß geübt. Sie hatte in gewissem Sinne die centrali- sirende Arbeit der Könige vollendet und die Trümmer des mittelalterlichen Staats, welche das Königthum, soweit es durch dieselben in seiner Allmacht nicht beschränkt wurde, hatte bestehen lassen, für alle Zeiten in gewaltigen, erschütternden Stößen weggefegt. Aber als der Sturm vorübergezogen war, zeigte sich, daß seine Wirkungen auf den Volkscharakter doch nur oberfläch¬ liche gewesen waren und daß durch die Begebenheiten, welche die alte Gesell¬ schaft zertrümmert und auf das Princip der Gleichheit eine neue Gesellschaft begründet hatten, nur die Staatsallmacht, die Abhängigkeit des Individuums Grenzboten III. 186!). 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/185>, abgerufen am 28.09.2024.