Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

von der Gesammtheit aufs Höchste gesteigert war. Napoleon war wie der
Erbe, so auch der Testamentsvollstrecker der Revolution; er gab der Staats¬
allmacht die feste, aller individuellen Entwickelung feindliche Form, die sie
bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. Er verstand es, nicht nur den
Willen der Einzelnen zu binden, er erstrebte, und mit Erfolg, eine absolute
Herrschaft über die öffentliche Meinung, um durch sie jede geistige Regung
in der Nation zu überwachen und zu leiten, und die öffentliche Meinung
war und ist eine gewaltige Macht in Frankreich, fast so gewaltig, wie die
Mode, die ja gewissermaßen nur ein Zweig der öffentlichen Meinung ist.
So bewegte sich denn auch die geringe künstlerische und literarische Thätigkeit
des kaiserlichen Frankreich ganz in dem engen Kreise der Classicität. Aber
trug schon in der Blüthezeit der Literatur die classische Form den Charakter
des Einförmigen und des Zwanges an sich, wie viel mehr mußte dies der
Fall sein in einer nur in Folge der Oberflächlichkeit des französischen Geistes
in den alten Bahnen gewohnheitsmäßig sich fortbewegenden Zeit. In der
Malerei und Plastik wurde bei aller technischen Virtuosität die römische Toga
zur Carricatur; in der Literatur wurde aus der Classicität ein steifes, ge¬
spreiztes Zopfthum, wie es Napoleon, dem im Gegensatz zu fast allen großen
Männern der Sinn für das Ideale gänzlich versagt war, liebte. Jede freie
Regung, nicht nur auf dem politischen, sondern auch auf dem inneren, geisti¬
gen, literarischen Gebiete war ihm ein Greuel. Wer sich dem Druck seines,
jede Individualität mit Vernichtung bedrohenden Systems entziehen wollte,
wurde zum Gegenstand seines unversöhnlichsten Hasses. Die Regel war ihm
Alles, nicht nur in der Verwaltung des Staates, sondern auch in den Ge¬
bieten, in denen jeder Fortschritt zu einer Veränderung der Regel führt, in
dem jeder schöpferische Geist, sobald er die unerläßliche heilsame Schule des Ge¬
setzes durchgemacht hat, selbst zum Gesetzgeber wird und der künstlerischen
Production eine neue Form vorzeichnet, innerhalb deren sich dieselbe so lang
bewegt, bis ein erneuter Umschwung auch ein neues Ideal der Classicität
ausstellt.

Auch in Frankreich trat endlich die Zeit ein, wo der Geist des
literarischen Schaffens der alten Form überdrüssig wurde, und so bildeten sich
unter dem Kaiserthum die kräftigen Anfänge jener Richtung aus, die als
Romantik der vertrockneten, geistlos gewordenen Classicität gegenübertrat
und die grade in Frankreich, wo sie in noch viel höherem Grade berechtigt
war, als in Deutschland, eine völlige Revolution in der Literatur hervorrief,
indem isle die politisch-sociale Revolutian von 1789 auf das geistige Gebiet
hinüberleitete. In dieser großen Bewegung, die nach harten, bis in die
zwanziger Jahre sich hineinziehenden Kämpfen zum Siege der neuen Ideen
führte, nimmt Lamartine eine der ersten Stellen ein. Sein poetisches Schaffen


von der Gesammtheit aufs Höchste gesteigert war. Napoleon war wie der
Erbe, so auch der Testamentsvollstrecker der Revolution; er gab der Staats¬
allmacht die feste, aller individuellen Entwickelung feindliche Form, die sie
bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. Er verstand es, nicht nur den
Willen der Einzelnen zu binden, er erstrebte, und mit Erfolg, eine absolute
Herrschaft über die öffentliche Meinung, um durch sie jede geistige Regung
in der Nation zu überwachen und zu leiten, und die öffentliche Meinung
war und ist eine gewaltige Macht in Frankreich, fast so gewaltig, wie die
Mode, die ja gewissermaßen nur ein Zweig der öffentlichen Meinung ist.
So bewegte sich denn auch die geringe künstlerische und literarische Thätigkeit
des kaiserlichen Frankreich ganz in dem engen Kreise der Classicität. Aber
trug schon in der Blüthezeit der Literatur die classische Form den Charakter
des Einförmigen und des Zwanges an sich, wie viel mehr mußte dies der
Fall sein in einer nur in Folge der Oberflächlichkeit des französischen Geistes
in den alten Bahnen gewohnheitsmäßig sich fortbewegenden Zeit. In der
Malerei und Plastik wurde bei aller technischen Virtuosität die römische Toga
zur Carricatur; in der Literatur wurde aus der Classicität ein steifes, ge¬
spreiztes Zopfthum, wie es Napoleon, dem im Gegensatz zu fast allen großen
Männern der Sinn für das Ideale gänzlich versagt war, liebte. Jede freie
Regung, nicht nur auf dem politischen, sondern auch auf dem inneren, geisti¬
gen, literarischen Gebiete war ihm ein Greuel. Wer sich dem Druck seines,
jede Individualität mit Vernichtung bedrohenden Systems entziehen wollte,
wurde zum Gegenstand seines unversöhnlichsten Hasses. Die Regel war ihm
Alles, nicht nur in der Verwaltung des Staates, sondern auch in den Ge¬
bieten, in denen jeder Fortschritt zu einer Veränderung der Regel führt, in
dem jeder schöpferische Geist, sobald er die unerläßliche heilsame Schule des Ge¬
setzes durchgemacht hat, selbst zum Gesetzgeber wird und der künstlerischen
Production eine neue Form vorzeichnet, innerhalb deren sich dieselbe so lang
bewegt, bis ein erneuter Umschwung auch ein neues Ideal der Classicität
ausstellt.

Auch in Frankreich trat endlich die Zeit ein, wo der Geist des
literarischen Schaffens der alten Form überdrüssig wurde, und so bildeten sich
unter dem Kaiserthum die kräftigen Anfänge jener Richtung aus, die als
Romantik der vertrockneten, geistlos gewordenen Classicität gegenübertrat
und die grade in Frankreich, wo sie in noch viel höherem Grade berechtigt
war, als in Deutschland, eine völlige Revolution in der Literatur hervorrief,
indem isle die politisch-sociale Revolutian von 1789 auf das geistige Gebiet
hinüberleitete. In dieser großen Bewegung, die nach harten, bis in die
zwanziger Jahre sich hineinziehenden Kämpfen zum Siege der neuen Ideen
führte, nimmt Lamartine eine der ersten Stellen ein. Sein poetisches Schaffen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0186" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121407"/>
          <p xml:id="ID_562" prev="#ID_561"> von der Gesammtheit aufs Höchste gesteigert war. Napoleon war wie der<lb/>
Erbe, so auch der Testamentsvollstrecker der Revolution; er gab der Staats¬<lb/>
allmacht die feste, aller individuellen Entwickelung feindliche Form, die sie<lb/>
bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. Er verstand es, nicht nur den<lb/>
Willen der Einzelnen zu binden, er erstrebte, und mit Erfolg, eine absolute<lb/>
Herrschaft über die öffentliche Meinung, um durch sie jede geistige Regung<lb/>
in der Nation zu überwachen und zu leiten, und die öffentliche Meinung<lb/>
war und ist eine gewaltige Macht in Frankreich, fast so gewaltig, wie die<lb/>
Mode, die ja gewissermaßen nur ein Zweig der öffentlichen Meinung ist.<lb/>
So bewegte sich denn auch die geringe künstlerische und literarische Thätigkeit<lb/>
des kaiserlichen Frankreich ganz in dem engen Kreise der Classicität. Aber<lb/>
trug schon in der Blüthezeit der Literatur die classische Form den Charakter<lb/>
des Einförmigen und des Zwanges an sich, wie viel mehr mußte dies der<lb/>
Fall sein in einer nur in Folge der Oberflächlichkeit des französischen Geistes<lb/>
in den alten Bahnen gewohnheitsmäßig sich fortbewegenden Zeit. In der<lb/>
Malerei und Plastik wurde bei aller technischen Virtuosität die römische Toga<lb/>
zur Carricatur; in der Literatur wurde aus der Classicität ein steifes, ge¬<lb/>
spreiztes Zopfthum, wie es Napoleon, dem im Gegensatz zu fast allen großen<lb/>
Männern der Sinn für das Ideale gänzlich versagt war, liebte. Jede freie<lb/>
Regung, nicht nur auf dem politischen, sondern auch auf dem inneren, geisti¬<lb/>
gen, literarischen Gebiete war ihm ein Greuel. Wer sich dem Druck seines,<lb/>
jede Individualität mit Vernichtung bedrohenden Systems entziehen wollte,<lb/>
wurde zum Gegenstand seines unversöhnlichsten Hasses. Die Regel war ihm<lb/>
Alles, nicht nur in der Verwaltung des Staates, sondern auch in den Ge¬<lb/>
bieten, in denen jeder Fortschritt zu einer Veränderung der Regel führt, in<lb/>
dem jeder schöpferische Geist, sobald er die unerläßliche heilsame Schule des Ge¬<lb/>
setzes durchgemacht hat, selbst zum Gesetzgeber wird und der künstlerischen<lb/>
Production eine neue Form vorzeichnet, innerhalb deren sich dieselbe so lang<lb/>
bewegt, bis ein erneuter Umschwung auch ein neues Ideal der Classicität<lb/>
ausstellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_563" next="#ID_564"> Auch in Frankreich trat endlich die Zeit ein, wo der Geist des<lb/>
literarischen Schaffens der alten Form überdrüssig wurde, und so bildeten sich<lb/>
unter dem Kaiserthum die kräftigen Anfänge jener Richtung aus, die als<lb/>
Romantik der vertrockneten, geistlos gewordenen Classicität gegenübertrat<lb/>
und die grade in Frankreich, wo sie in noch viel höherem Grade berechtigt<lb/>
war, als in Deutschland, eine völlige Revolution in der Literatur hervorrief,<lb/>
indem isle die politisch-sociale Revolutian von 1789 auf das geistige Gebiet<lb/>
hinüberleitete. In dieser großen Bewegung, die nach harten, bis in die<lb/>
zwanziger Jahre sich hineinziehenden Kämpfen zum Siege der neuen Ideen<lb/>
führte, nimmt Lamartine eine der ersten Stellen ein. Sein poetisches Schaffen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0186] von der Gesammtheit aufs Höchste gesteigert war. Napoleon war wie der Erbe, so auch der Testamentsvollstrecker der Revolution; er gab der Staats¬ allmacht die feste, aller individuellen Entwickelung feindliche Form, die sie bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. Er verstand es, nicht nur den Willen der Einzelnen zu binden, er erstrebte, und mit Erfolg, eine absolute Herrschaft über die öffentliche Meinung, um durch sie jede geistige Regung in der Nation zu überwachen und zu leiten, und die öffentliche Meinung war und ist eine gewaltige Macht in Frankreich, fast so gewaltig, wie die Mode, die ja gewissermaßen nur ein Zweig der öffentlichen Meinung ist. So bewegte sich denn auch die geringe künstlerische und literarische Thätigkeit des kaiserlichen Frankreich ganz in dem engen Kreise der Classicität. Aber trug schon in der Blüthezeit der Literatur die classische Form den Charakter des Einförmigen und des Zwanges an sich, wie viel mehr mußte dies der Fall sein in einer nur in Folge der Oberflächlichkeit des französischen Geistes in den alten Bahnen gewohnheitsmäßig sich fortbewegenden Zeit. In der Malerei und Plastik wurde bei aller technischen Virtuosität die römische Toga zur Carricatur; in der Literatur wurde aus der Classicität ein steifes, ge¬ spreiztes Zopfthum, wie es Napoleon, dem im Gegensatz zu fast allen großen Männern der Sinn für das Ideale gänzlich versagt war, liebte. Jede freie Regung, nicht nur auf dem politischen, sondern auch auf dem inneren, geisti¬ gen, literarischen Gebiete war ihm ein Greuel. Wer sich dem Druck seines, jede Individualität mit Vernichtung bedrohenden Systems entziehen wollte, wurde zum Gegenstand seines unversöhnlichsten Hasses. Die Regel war ihm Alles, nicht nur in der Verwaltung des Staates, sondern auch in den Ge¬ bieten, in denen jeder Fortschritt zu einer Veränderung der Regel führt, in dem jeder schöpferische Geist, sobald er die unerläßliche heilsame Schule des Ge¬ setzes durchgemacht hat, selbst zum Gesetzgeber wird und der künstlerischen Production eine neue Form vorzeichnet, innerhalb deren sich dieselbe so lang bewegt, bis ein erneuter Umschwung auch ein neues Ideal der Classicität ausstellt. Auch in Frankreich trat endlich die Zeit ein, wo der Geist des literarischen Schaffens der alten Form überdrüssig wurde, und so bildeten sich unter dem Kaiserthum die kräftigen Anfänge jener Richtung aus, die als Romantik der vertrockneten, geistlos gewordenen Classicität gegenübertrat und die grade in Frankreich, wo sie in noch viel höherem Grade berechtigt war, als in Deutschland, eine völlige Revolution in der Literatur hervorrief, indem isle die politisch-sociale Revolutian von 1789 auf das geistige Gebiet hinüberleitete. In dieser großen Bewegung, die nach harten, bis in die zwanziger Jahre sich hineinziehenden Kämpfen zum Siege der neuen Ideen führte, nimmt Lamartine eine der ersten Stellen ein. Sein poetisches Schaffen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/186
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/186>, abgerufen am 28.09.2024.