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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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die nationale Sache im deutschen "Auslande" zusammenfallen, daß jede dem erste¬
ren bereitete Schwierigkeit auf die letztere zurückwirkt. Selbst wenn sich erwarten
ließe, daß die Verlegenheit des führerlos gewordenen Cabinets zu einer Um¬
bildung des Ministeriums führen könnte, bliebe ein momentaner innerer
Bankerott der preußischen Politik für die nationale Sache eine Verlegenheit.
Aber es ließe sich dann doch hoffen, daß dem Stillstande frischere Bewegung
folgen und den Verlust ausgleichen werde. Von Hoffnungen dieser Art sind
wir aber noch weit entfernt. Sehr viel näher liegt die Befürchtung, nach
den ersten ministeriellen Niederlagen werde Graf Bismarck zu Hilfe gerufen
werden, um einen Conflict beizulegen, dessen Ausgleichung ihn um den besten
Theil seines nationalen Einflusses bringen würde. Die mit dem Namen des
Bundeskanzlers wenigstens zur Zeit identificirte Sache des jungen deutschen
Staates hätte dann für das alte preußische Ministerium die Zeche zu zahlen.
Ob seine Mittel nach dem Rückschläge, den wir seit 1867 ohnehin erlebt
haben, wohl dazu ausreichen werden?

Der eigentliche Kern des Volks, die gebildete Mittelclasse, ist mit ihren
Interessen allerdings zu tief in den neuen Staat hineingewachsen, als daß sie den
Bestand desselben von den einzelnen Stadien der Vor- und Rückbewegung abhän¬
gig glauben könnte. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß an die Stelle des ver-
trauensvollen Eifers, der sich noch vor Jahresfrist zeigte, eine gewisse Abspannung
und Gleichgiltigkeit getreten ist. Wohl weiß man, daß den neugeschaffenen
Verhältnissen zuviel gesunde Kraft inne wohnt, als daß dieselben schon bei
den ersten Hemmungen in Frage gestellt erscheinen könnten -- aber schon
seit geraumer Zeit haben die Vorgänge auf unserer politischen Bühne ein
ziemlich laues und unaufmerksames Publikum; die Einen meinen, erfreuliche
Dinge bekomme man doch nicht zu hören, die Anderen sehen den gesammten
und gegenwärtigen Zustand als ein Provisorium an, das erst nach einer Ab¬
rechnung mit Frankreich und mit dem Süden zu definitiver Gestaltung
gelangen wird. Und von einer solchen Abrechnung scheinen wir doch zur Zeit
entfernter denn je zu sein. -- In den s. g. arbeitenden Classen gravitiren
die Interessen schon seit Jahren nach einer andern Seite hin. Namentlich
in den größeren Städten Norddeutschlands hat die Lauheit der Massen für
rein politische Fragen in demselben Maaße zugenommen, in dem sich der
Eiser für eine Lösung des großen socialen Problems im Sinne der Lassalleschen
Ideen, erhitzte.

Obgleich die socialistische Bewegung ihre Kinderschuhe noch nicht aus¬
gezogen hat, gewinnt sie in Deutschland doch mehr und mehr an Bedeutung.
Verdunkelt wird dieselbe freilich durch das selbstische, aufgeblasene und prin¬
cipienlose Gebühren der socialistischen Wortführer, die seit ihrem Eintritt in
den Reichstag außerhalb wie innerhalb ihrer Anhängerschaft den Rest ihres


die nationale Sache im deutschen „Auslande" zusammenfallen, daß jede dem erste¬
ren bereitete Schwierigkeit auf die letztere zurückwirkt. Selbst wenn sich erwarten
ließe, daß die Verlegenheit des führerlos gewordenen Cabinets zu einer Um¬
bildung des Ministeriums führen könnte, bliebe ein momentaner innerer
Bankerott der preußischen Politik für die nationale Sache eine Verlegenheit.
Aber es ließe sich dann doch hoffen, daß dem Stillstande frischere Bewegung
folgen und den Verlust ausgleichen werde. Von Hoffnungen dieser Art sind
wir aber noch weit entfernt. Sehr viel näher liegt die Befürchtung, nach
den ersten ministeriellen Niederlagen werde Graf Bismarck zu Hilfe gerufen
werden, um einen Conflict beizulegen, dessen Ausgleichung ihn um den besten
Theil seines nationalen Einflusses bringen würde. Die mit dem Namen des
Bundeskanzlers wenigstens zur Zeit identificirte Sache des jungen deutschen
Staates hätte dann für das alte preußische Ministerium die Zeche zu zahlen.
Ob seine Mittel nach dem Rückschläge, den wir seit 1867 ohnehin erlebt
haben, wohl dazu ausreichen werden?

Der eigentliche Kern des Volks, die gebildete Mittelclasse, ist mit ihren
Interessen allerdings zu tief in den neuen Staat hineingewachsen, als daß sie den
Bestand desselben von den einzelnen Stadien der Vor- und Rückbewegung abhän¬
gig glauben könnte. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß an die Stelle des ver-
trauensvollen Eifers, der sich noch vor Jahresfrist zeigte, eine gewisse Abspannung
und Gleichgiltigkeit getreten ist. Wohl weiß man, daß den neugeschaffenen
Verhältnissen zuviel gesunde Kraft inne wohnt, als daß dieselben schon bei
den ersten Hemmungen in Frage gestellt erscheinen könnten — aber schon
seit geraumer Zeit haben die Vorgänge auf unserer politischen Bühne ein
ziemlich laues und unaufmerksames Publikum; die Einen meinen, erfreuliche
Dinge bekomme man doch nicht zu hören, die Anderen sehen den gesammten
und gegenwärtigen Zustand als ein Provisorium an, das erst nach einer Ab¬
rechnung mit Frankreich und mit dem Süden zu definitiver Gestaltung
gelangen wird. Und von einer solchen Abrechnung scheinen wir doch zur Zeit
entfernter denn je zu sein. — In den s. g. arbeitenden Classen gravitiren
die Interessen schon seit Jahren nach einer andern Seite hin. Namentlich
in den größeren Städten Norddeutschlands hat die Lauheit der Massen für
rein politische Fragen in demselben Maaße zugenommen, in dem sich der
Eiser für eine Lösung des großen socialen Problems im Sinne der Lassalleschen
Ideen, erhitzte.

Obgleich die socialistische Bewegung ihre Kinderschuhe noch nicht aus¬
gezogen hat, gewinnt sie in Deutschland doch mehr und mehr an Bedeutung.
Verdunkelt wird dieselbe freilich durch das selbstische, aufgeblasene und prin¬
cipienlose Gebühren der socialistischen Wortführer, die seit ihrem Eintritt in
den Reichstag außerhalb wie innerhalb ihrer Anhängerschaft den Rest ihres


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[0183] die nationale Sache im deutschen „Auslande" zusammenfallen, daß jede dem erste¬ ren bereitete Schwierigkeit auf die letztere zurückwirkt. Selbst wenn sich erwarten ließe, daß die Verlegenheit des führerlos gewordenen Cabinets zu einer Um¬ bildung des Ministeriums führen könnte, bliebe ein momentaner innerer Bankerott der preußischen Politik für die nationale Sache eine Verlegenheit. Aber es ließe sich dann doch hoffen, daß dem Stillstande frischere Bewegung folgen und den Verlust ausgleichen werde. Von Hoffnungen dieser Art sind wir aber noch weit entfernt. Sehr viel näher liegt die Befürchtung, nach den ersten ministeriellen Niederlagen werde Graf Bismarck zu Hilfe gerufen werden, um einen Conflict beizulegen, dessen Ausgleichung ihn um den besten Theil seines nationalen Einflusses bringen würde. Die mit dem Namen des Bundeskanzlers wenigstens zur Zeit identificirte Sache des jungen deutschen Staates hätte dann für das alte preußische Ministerium die Zeche zu zahlen. Ob seine Mittel nach dem Rückschläge, den wir seit 1867 ohnehin erlebt haben, wohl dazu ausreichen werden? Der eigentliche Kern des Volks, die gebildete Mittelclasse, ist mit ihren Interessen allerdings zu tief in den neuen Staat hineingewachsen, als daß sie den Bestand desselben von den einzelnen Stadien der Vor- und Rückbewegung abhän¬ gig glauben könnte. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß an die Stelle des ver- trauensvollen Eifers, der sich noch vor Jahresfrist zeigte, eine gewisse Abspannung und Gleichgiltigkeit getreten ist. Wohl weiß man, daß den neugeschaffenen Verhältnissen zuviel gesunde Kraft inne wohnt, als daß dieselben schon bei den ersten Hemmungen in Frage gestellt erscheinen könnten — aber schon seit geraumer Zeit haben die Vorgänge auf unserer politischen Bühne ein ziemlich laues und unaufmerksames Publikum; die Einen meinen, erfreuliche Dinge bekomme man doch nicht zu hören, die Anderen sehen den gesammten und gegenwärtigen Zustand als ein Provisorium an, das erst nach einer Ab¬ rechnung mit Frankreich und mit dem Süden zu definitiver Gestaltung gelangen wird. Und von einer solchen Abrechnung scheinen wir doch zur Zeit entfernter denn je zu sein. — In den s. g. arbeitenden Classen gravitiren die Interessen schon seit Jahren nach einer andern Seite hin. Namentlich in den größeren Städten Norddeutschlands hat die Lauheit der Massen für rein politische Fragen in demselben Maaße zugenommen, in dem sich der Eiser für eine Lösung des großen socialen Problems im Sinne der Lassalleschen Ideen, erhitzte. Obgleich die socialistische Bewegung ihre Kinderschuhe noch nicht aus¬ gezogen hat, gewinnt sie in Deutschland doch mehr und mehr an Bedeutung. Verdunkelt wird dieselbe freilich durch das selbstische, aufgeblasene und prin¬ cipienlose Gebühren der socialistischen Wortführer, die seit ihrem Eintritt in den Reichstag außerhalb wie innerhalb ihrer Anhängerschaft den Rest ihres

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/183>, abgerufen am 29.09.2024.