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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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geistig mit Erfolg colonisirt haben, indem sie die Weise fremder Nationen
mit entschlossener Hand durch ihre eigene verdrängten, während wir Deutschen,
gewohnt, im eigenen Vaterlande die localen und individuellen Eigenthüm¬
lichkeiten mit heiliger Scheu zu respectiren, in der Fremde mit dem frommen
Bestreben, "den Heiden auch Heiden zu werden", nur allzugründlich zum Ziele
gelangt sind; wenn wir auch andererseits um so besser verstanden, fremde
Kolonisten im eigenen Lande zu verwerthen. Besonders aber haben unsere
Nachbarn im Westen jenen Zug in ihrer Literatur bewährt, bei der wir
immer und immer wieder zu klagen finden, daß für die Würdigung fremder
Geistesarbeit das eigene nationale Herkommen der nächste und leider zumeist
einzige Maaßstab zu sein pflegte. Wo ein tüchtiges Werk diese Schranken
durchbricht und die literarischen Schätze anderer Nationen von höherem und
unbefangeneren Standpunkt aus redlich zu würdigen und so ein internatio¬
nales Verständniß im ächten Sinne anzubahnen sucht, verdient es unsere
ausdrückliche Anerkennung und in dieser Hinsicht freuen wir uns, auf einem
so wichtigen Gebiete, wie das der Literatur des Dramas ist, in dem sich
die Geister ohne Unterschied der Nation immer am leichtesten in ihren
höchsten Empfindungen begegnet haben, auf die in der Ueberschrift genannte
sehr achtungswerthe Erscheinung aufmerksam zu machen.

Man wird bei einem Franzosen von vorn herein weder die philologische
Akribie noch die philosophisch vertiefte Anschauung des deutschen Forschers
erwarten, ebensowenig den nüchternen Sinn des Engländers für die Ver¬
arbeitung historischer Details und die Kritik der praktischen Lebensweisheit.
Die Franzosen sind in unserer Zeit, wofür im Alterthume die Griechen den
übrigen Völkern galten, die geborene nMo eomosäa. Kein anderes Volk weiß
wie sie die gesellschaftlichen Zustände der unmittelbaren Gegenwart so photo¬
graphisch treu in Bühnenwerken wiederzugeben, darum, weil die Schaustellung,
auf die das wirkliche Leben bei ihnen in allen seinen Erscheinungen bewußtvoll
ausgeht, dem Leben der Bühne viel näher verwandt ist, als die Zustände
irgend eines anderen Volkes. Die Leichtigkeit, mit der ihre Feder jede Hand¬
lung samisch zu reproduciren weiß, hat dann freilich auch eine Verflüchtigung
und Veräußerlichung ihrer Arbeiten zur Folge, die wir Deutschen ihnen am
wenigsten vergeben. Ihnen bleibt eben die Bedeutung des Theaters wesent¬
lich die primitiv wörtliche: die Welt des Schauens. der glänzenden Formen
in überraschender Ausstattung, geschickt bewegter Action, elegantem Dialog;
die Forderung einer unverbrüchlichen ästhetisch-ethischen Idee überlassen sie
uns "Ideologen". Darum ist auch für sie eine Geschichte des Theaters
etwas wesentlich verschiedenes von dem, was wir unter einer Geschichte des
Dramas verstehen. Sie wird nicht wie diese darauf ausgehen, den dauernd
poetischen oder vorübergehend historischen Werth dramatischer Werke dar-


geistig mit Erfolg colonisirt haben, indem sie die Weise fremder Nationen
mit entschlossener Hand durch ihre eigene verdrängten, während wir Deutschen,
gewohnt, im eigenen Vaterlande die localen und individuellen Eigenthüm¬
lichkeiten mit heiliger Scheu zu respectiren, in der Fremde mit dem frommen
Bestreben, „den Heiden auch Heiden zu werden", nur allzugründlich zum Ziele
gelangt sind; wenn wir auch andererseits um so besser verstanden, fremde
Kolonisten im eigenen Lande zu verwerthen. Besonders aber haben unsere
Nachbarn im Westen jenen Zug in ihrer Literatur bewährt, bei der wir
immer und immer wieder zu klagen finden, daß für die Würdigung fremder
Geistesarbeit das eigene nationale Herkommen der nächste und leider zumeist
einzige Maaßstab zu sein pflegte. Wo ein tüchtiges Werk diese Schranken
durchbricht und die literarischen Schätze anderer Nationen von höherem und
unbefangeneren Standpunkt aus redlich zu würdigen und so ein internatio¬
nales Verständniß im ächten Sinne anzubahnen sucht, verdient es unsere
ausdrückliche Anerkennung und in dieser Hinsicht freuen wir uns, auf einem
so wichtigen Gebiete, wie das der Literatur des Dramas ist, in dem sich
die Geister ohne Unterschied der Nation immer am leichtesten in ihren
höchsten Empfindungen begegnet haben, auf die in der Ueberschrift genannte
sehr achtungswerthe Erscheinung aufmerksam zu machen.

Man wird bei einem Franzosen von vorn herein weder die philologische
Akribie noch die philosophisch vertiefte Anschauung des deutschen Forschers
erwarten, ebensowenig den nüchternen Sinn des Engländers für die Ver¬
arbeitung historischer Details und die Kritik der praktischen Lebensweisheit.
Die Franzosen sind in unserer Zeit, wofür im Alterthume die Griechen den
übrigen Völkern galten, die geborene nMo eomosäa. Kein anderes Volk weiß
wie sie die gesellschaftlichen Zustände der unmittelbaren Gegenwart so photo¬
graphisch treu in Bühnenwerken wiederzugeben, darum, weil die Schaustellung,
auf die das wirkliche Leben bei ihnen in allen seinen Erscheinungen bewußtvoll
ausgeht, dem Leben der Bühne viel näher verwandt ist, als die Zustände
irgend eines anderen Volkes. Die Leichtigkeit, mit der ihre Feder jede Hand¬
lung samisch zu reproduciren weiß, hat dann freilich auch eine Verflüchtigung
und Veräußerlichung ihrer Arbeiten zur Folge, die wir Deutschen ihnen am
wenigsten vergeben. Ihnen bleibt eben die Bedeutung des Theaters wesent¬
lich die primitiv wörtliche: die Welt des Schauens. der glänzenden Formen
in überraschender Ausstattung, geschickt bewegter Action, elegantem Dialog;
die Forderung einer unverbrüchlichen ästhetisch-ethischen Idee überlassen sie
uns „Ideologen". Darum ist auch für sie eine Geschichte des Theaters
etwas wesentlich verschiedenes von dem, was wir unter einer Geschichte des
Dramas verstehen. Sie wird nicht wie diese darauf ausgehen, den dauernd
poetischen oder vorübergehend historischen Werth dramatischer Werke dar-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/160>, abgerufen am 25.08.2024.