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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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will und seit Jahr und Tag gegen jede Annäherung an Rußland protestirt.
Zeugniß dafür gibt die lange und erbitterte Polemik des "Lork-ssponäenee
tseköyue" gegen die panslavistischen Organe der Petersburger Presse, welche den
Böhmen vergeblich einzureden versuchten, ihr Geschick sei von dem der ostslavi¬
schen Welt abhängig und müsse mit diesem identificirt werden. Die kurzathmige
Begeisterung für das Großrussenthum, die sich noch im vorigen Sommer
wiederholt manifestirte (wir erinnern an das Jubiläum des Prager Landes-
museums und die mehrtägige Palazky - Feier) hat sich bereits gegenwärtig
überlebt und von einem Zusammenhange zwischen den czechischen Bestre-
bungen und der Oestreich drohenden panslavistischen Gefahr kann im Ernste
eigentlich nicht die Rede sein.

Besteht eine solche Gefahr überhaupt, so ist Galizien ein ungleich wich¬
tigerer und bedrohterer Punkt als das immerhin halb germanisirte Böhmen.
Gleich der Mehrzahl der an der Ostgrenze unseres Culturgebiets liegenden
Länder im Allgemeinen wenig beachtet, erinnert Galizien uns periodisch
immer wieder daran, daß eS der Boden ist, auf dem ein wichtiges Problem
der Zukunft entschieden werden wird. Vor etwa zwei und einem halben
Jahre hatte die Spannung zwischen den hier lebenden zwei slavischen Völkern
einen so hohen Grad erreicht, daß man eine Katastrophe unvermeidlich glaubte;
im vorigen Sommer erhielt der Optimismus der cisleithanischen Liberalen
von dieser Seite her einen empfindlichen Stoß; in der vorigen Woche haben
die zu Ehren der Grablegung König Kasimirs des Großen in den galizischen
Städten inscenirten Demonstrationen die gesammte slavisch-polnische Welt
erschüttert. Obgleich die östreichische Regierung sich gern die Miene gibt,
mit den polnischen Patrioten auf dem besten Fuß zu stehen, zeigt sie jedes
Mal eine gewisse Unruhe, wenn das öffentliche Leben dieser Provinz stärker
zu pulsiren beginnt. Und in der That haben hier die verschiedensten Gründe
zusammengewirkt, um eine dauernde Befestigung östreichischer Einflüsse zu
erschweren und dem deutschen Beamtenthum, auf welches dieselben sich sonst
stützen einen Damm entgegen zu ziehen. Kaum eine andere Provinz des viel-
gliedrigen Kaiserstaats ist durch seine geographische Lage zu den großen Fra¬
gen der Zukunft in ein so direktes Verhältniß gesetzt, wie das Königreich
Galizien und Lodomerien. Im Westen, ausschließlich von Polen bewohnt, ist
es der classische Boden aller polnischen Zukunftsträume, die Operationsbasis
für alle Agitationen, welche in Posen, dem Königreich und den Provinzen
des Generalgouvernements Kiew unternommen werden; östlich von dem
Flüßchen San leben 210,000 Ruthenen, durch Polenhaß, Abneigung gegen
die römisch-katholische Kirche und Hoffnung auf eine Umwälzung der agra¬
rischen Verhältnisse dem russischen Interesse naturgemäß verbündet. Hier ist
zugleich die Poststraße für alle Intriguen, welche nach Ungarn gesponnen


will und seit Jahr und Tag gegen jede Annäherung an Rußland protestirt.
Zeugniß dafür gibt die lange und erbitterte Polemik des „Lork-ssponäenee
tseköyue" gegen die panslavistischen Organe der Petersburger Presse, welche den
Böhmen vergeblich einzureden versuchten, ihr Geschick sei von dem der ostslavi¬
schen Welt abhängig und müsse mit diesem identificirt werden. Die kurzathmige
Begeisterung für das Großrussenthum, die sich noch im vorigen Sommer
wiederholt manifestirte (wir erinnern an das Jubiläum des Prager Landes-
museums und die mehrtägige Palazky - Feier) hat sich bereits gegenwärtig
überlebt und von einem Zusammenhange zwischen den czechischen Bestre-
bungen und der Oestreich drohenden panslavistischen Gefahr kann im Ernste
eigentlich nicht die Rede sein.

Besteht eine solche Gefahr überhaupt, so ist Galizien ein ungleich wich¬
tigerer und bedrohterer Punkt als das immerhin halb germanisirte Böhmen.
Gleich der Mehrzahl der an der Ostgrenze unseres Culturgebiets liegenden
Länder im Allgemeinen wenig beachtet, erinnert Galizien uns periodisch
immer wieder daran, daß eS der Boden ist, auf dem ein wichtiges Problem
der Zukunft entschieden werden wird. Vor etwa zwei und einem halben
Jahre hatte die Spannung zwischen den hier lebenden zwei slavischen Völkern
einen so hohen Grad erreicht, daß man eine Katastrophe unvermeidlich glaubte;
im vorigen Sommer erhielt der Optimismus der cisleithanischen Liberalen
von dieser Seite her einen empfindlichen Stoß; in der vorigen Woche haben
die zu Ehren der Grablegung König Kasimirs des Großen in den galizischen
Städten inscenirten Demonstrationen die gesammte slavisch-polnische Welt
erschüttert. Obgleich die östreichische Regierung sich gern die Miene gibt,
mit den polnischen Patrioten auf dem besten Fuß zu stehen, zeigt sie jedes
Mal eine gewisse Unruhe, wenn das öffentliche Leben dieser Provinz stärker
zu pulsiren beginnt. Und in der That haben hier die verschiedensten Gründe
zusammengewirkt, um eine dauernde Befestigung östreichischer Einflüsse zu
erschweren und dem deutschen Beamtenthum, auf welches dieselben sich sonst
stützen einen Damm entgegen zu ziehen. Kaum eine andere Provinz des viel-
gliedrigen Kaiserstaats ist durch seine geographische Lage zu den großen Fra¬
gen der Zukunft in ein so direktes Verhältniß gesetzt, wie das Königreich
Galizien und Lodomerien. Im Westen, ausschließlich von Polen bewohnt, ist
es der classische Boden aller polnischen Zukunftsträume, die Operationsbasis
für alle Agitationen, welche in Posen, dem Königreich und den Provinzen
des Generalgouvernements Kiew unternommen werden; östlich von dem
Flüßchen San leben 210,000 Ruthenen, durch Polenhaß, Abneigung gegen
die römisch-katholische Kirche und Hoffnung auf eine Umwälzung der agra¬
rischen Verhältnisse dem russischen Interesse naturgemäß verbündet. Hier ist
zugleich die Poststraße für alle Intriguen, welche nach Ungarn gesponnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/151>, abgerufen am 22.07.2024.