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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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werden, um die dort lebenden, in den nordöstlichen Comitaten besonders zahl¬
reichen Slaven in beständiger Erregung gegen das magyarische Element zu
erhalten. Die südlich an dieses vom Wiener Congreß zusammengebackene
Königreich grenzende Bukowina bewohnen 173,000 Rumänen, von ebenso
viel Ruthenen in Schach gehalten, aber doch zu dem jungen Staate gravi-
tirend, der bestimmt ist. bei der Lösung der orientalischen Frage ein gewich¬
tiges Wort mitzusprechen. Seit 1849 hat die Bukowina zwar aufgehört eine
galizische Provinz zu sein, aber factisch steht sie mit dem Königreiche noch
gegenwärtig in enger Verbindung.

So erscheint jeder der verschiedenen Theile Galiziens als Träger eines
besonderen Interesses. Im Westen werden seit Jahr und Tag Versuche ge¬
macht, einen polnischen Reservestaat zu bilden, der im entscheidenden Augen¬
blick zum Kern des neuen Polen werden und Oestreich in die Lage versetzen
kann, die angrenzenden Provinzen der beiden Nachbarmonarchien in sein
Interesse zu ziehen. Offensive Absichten gehen hier mit defensiven Hand in
Hand, denn der ruthenische Theil Galiziens kann jeden Tag zu russischer
Einmischung Veranlassung geben. Die Kleinrussen, welche hier leben, stehen
zu dem polnischen Adel genau in demselben Verhältniß wie die Weiß - und
Kleinrussen, Samogitier und Lithauer der anstoßenden russischen Provinzen.
Alles was gebildet und zur herrschenden Classe gehört, denkt und redet pol¬
nisch, betet lateinisch. Adel, Intelligenz und höhere Geistlichkeit sind ent¬
weder von lechischer Abstammung oder sie bestehen aus Kleinrussen, die polo-
nisirt und katholisirt sind und ihren Ursprung aus jenem Bauernvolk, für
welches Graf Franz Stadion die Bezeichnung "Ruthenen" erfand, nach
Kräften verleugnen. Aber während die Städte und Edelhofe deuUich den pol¬
nischen Charakter tragen und von denen des rein-polnischen Westgalizien
kaum zu unterscheiden sind, arbeitet das flache Land seit zwanzig Jahren
daran, sich von dem polnisch-katholisch-aristokratischen Einfluß zu emancipiren
und eine ächtrussische Physionomie anzunehmen. Zwar hat der gemeine
Mann an diesen Bestrebungen in der Regel noch keinen directen Antheil; er
haßt den Polen nur als den Herrn, dem er bis vor zwanzig Jahren den
Robot (Frohne) leisten mußte, hat auch wohl von dem stammverwandten
Volk und Staat von Moskau etwas gehört, ist im allgemeinen aber auf
einer zu niedrigen Stufe der Bildung, um sich viel um Politik zu kümmern.
Dafür fehlt es nicht an Leuten, die ihre Lebensaufgabe darin fehen, diesen
Sinn in ihm zu wecken. Der griechische oder griechisch - unirte Pope des
Dorfs, der jüngere Schulmeister, der Bauernsohn, der in der Stadt höhere
Bildung erhalten und zu den Füßen "national" gebliebener Lehrer des
griechisch-unirten Seminars gesessen hat, sehen in der Gleichstellung des unter¬
drückten Stamms mit dem herrschenden ihre Lebensaufgabe, nähren gegen


werden, um die dort lebenden, in den nordöstlichen Comitaten besonders zahl¬
reichen Slaven in beständiger Erregung gegen das magyarische Element zu
erhalten. Die südlich an dieses vom Wiener Congreß zusammengebackene
Königreich grenzende Bukowina bewohnen 173,000 Rumänen, von ebenso
viel Ruthenen in Schach gehalten, aber doch zu dem jungen Staate gravi-
tirend, der bestimmt ist. bei der Lösung der orientalischen Frage ein gewich¬
tiges Wort mitzusprechen. Seit 1849 hat die Bukowina zwar aufgehört eine
galizische Provinz zu sein, aber factisch steht sie mit dem Königreiche noch
gegenwärtig in enger Verbindung.

So erscheint jeder der verschiedenen Theile Galiziens als Träger eines
besonderen Interesses. Im Westen werden seit Jahr und Tag Versuche ge¬
macht, einen polnischen Reservestaat zu bilden, der im entscheidenden Augen¬
blick zum Kern des neuen Polen werden und Oestreich in die Lage versetzen
kann, die angrenzenden Provinzen der beiden Nachbarmonarchien in sein
Interesse zu ziehen. Offensive Absichten gehen hier mit defensiven Hand in
Hand, denn der ruthenische Theil Galiziens kann jeden Tag zu russischer
Einmischung Veranlassung geben. Die Kleinrussen, welche hier leben, stehen
zu dem polnischen Adel genau in demselben Verhältniß wie die Weiß - und
Kleinrussen, Samogitier und Lithauer der anstoßenden russischen Provinzen.
Alles was gebildet und zur herrschenden Classe gehört, denkt und redet pol¬
nisch, betet lateinisch. Adel, Intelligenz und höhere Geistlichkeit sind ent¬
weder von lechischer Abstammung oder sie bestehen aus Kleinrussen, die polo-
nisirt und katholisirt sind und ihren Ursprung aus jenem Bauernvolk, für
welches Graf Franz Stadion die Bezeichnung „Ruthenen" erfand, nach
Kräften verleugnen. Aber während die Städte und Edelhofe deuUich den pol¬
nischen Charakter tragen und von denen des rein-polnischen Westgalizien
kaum zu unterscheiden sind, arbeitet das flache Land seit zwanzig Jahren
daran, sich von dem polnisch-katholisch-aristokratischen Einfluß zu emancipiren
und eine ächtrussische Physionomie anzunehmen. Zwar hat der gemeine
Mann an diesen Bestrebungen in der Regel noch keinen directen Antheil; er
haßt den Polen nur als den Herrn, dem er bis vor zwanzig Jahren den
Robot (Frohne) leisten mußte, hat auch wohl von dem stammverwandten
Volk und Staat von Moskau etwas gehört, ist im allgemeinen aber auf
einer zu niedrigen Stufe der Bildung, um sich viel um Politik zu kümmern.
Dafür fehlt es nicht an Leuten, die ihre Lebensaufgabe darin fehen, diesen
Sinn in ihm zu wecken. Der griechische oder griechisch - unirte Pope des
Dorfs, der jüngere Schulmeister, der Bauernsohn, der in der Stadt höhere
Bildung erhalten und zu den Füßen „national" gebliebener Lehrer des
griechisch-unirten Seminars gesessen hat, sehen in der Gleichstellung des unter¬
drückten Stamms mit dem herrschenden ihre Lebensaufgabe, nähren gegen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/152>, abgerufen am 22.07.2024.