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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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welche den Gegensatz zwischen dem alten Paar, das an dem geistvollen
Sohn mit abgöttischer Verehrung hängt, und der brutalen, unduldsamen
Härte des Helden schildern, gipfelt das Hauptinteresse des gesammten Buchs
und zugleich die Meisterschaft der Darstellung des Autors.

Das Aelternpaar, das in stiller Abgeschiedenheit von der Welt grau
geworden ist, treu an dem Glauben und Aberglauben seines Volks hängt,
dessen einziges Lebensinteresse der Sohn ist, den sie nicht verstehen können
und der ihre Liebkosungen halb verlegen, halb mürrisch zurückweist, in dem sie
den großen Mann verehren, obgleich er Alles mit Füßen tritt, was ihnen heilig
ist -- dieses alte Paar ist mit einer Wärme und Feinsinnigkeit gezeichnet,
wie sie nur aus dem Pinsel des ächten Künstlers quellen kann. Der Vater
bemüht sich, die Reminiscenzen seiner Jugendbildung aufzufrischen, und den
Interessen des Sohnes zu folgen, er steigert sich zu einer Freiheit und Kühn¬
heit des Urtheils, die ihn fortwährend mit seinen religiösen Anschauungen
in Gegensatz bringt, und kann es doch nicht dahin bringen, seinen Eugen zu
verstehen oder von diesem als Genosse angesehen zu werden; die Mutter ist
froh, wenn er ihre Liebkosungen nicht all' zu rauh abweist, und wenn die
Schöpfungen ihrer Kochkunst bei dem bedürsnißlosen Studenten Gnade finden;
ihre Religiosität verbirgt sie ängstlich, weil sie seinen Unglauben ahnt und
wenn Eugen mit dem Priester, der das Dankgebet sür seine glückliche An¬
kunft gehalten, gemeinsam Thee trinkt, so sind alle Wünsche der bescheidenen
Frau ersüllt. -- Nach kurzem Zusammenleben mit den Alten, reißt Basarow
sich los, es zieht ihn in das Haus der schönen Wittwe Anna Odinzow, die
er durch Kirsanow kennen gelernt hat und die in der Nachbarschaft lebt.
Anna ist der Typus der Dame aus der großen russischen Gesellschaft, geist¬
reich, kokett, nicht ohne Empfindung, aber gewohnt, diese in Eis zu verwandeln,
sobald sie den andern Theil Feuer fangen sieht. Basarow, der die Aristokraten
haßt, ihre feinen Formen als zeitraubende Spielereien verachtet, der seinem
Freunde noch eben deducirt hat, "daß man als Physiologe nicht zweifelhaft dar-
über sein könne, was es mit den sogenannten geheimnißvollen Bezügen zwischen
Männern und Frauen eigentlich auf sich habe." -- Basarow hat für die
schöne, some Frau eine Leidenschaft gesaßt, deren Flammen über seinem Kopf
zusammenschlagen. Anna Odinzow kann dem interessanten jungen Sonderling,
den sie in ihre Kreise gebannt, warme Theilnahe nicht versagen, aber das
Geständniß seiner Liebe bricht so jäh und wild hervor, daß die an Formen¬
schönheit gewöhnte Frau wie vor einem "Abgrund des Häßlichen" zurück¬
schrickt, und den Mann, der ihrer quietistischen Lebensbehandlung gefährlich
zu werden drohte, wenn auch mit getheiltem Herzen seiner Wege gehen läßt.
Inzwischen haben Annas junge Schwester und Arkady den Weg zu einander
gefunden und ihre sanften Herzen ohne großen Kampf zu friedlichem Bunde


welche den Gegensatz zwischen dem alten Paar, das an dem geistvollen
Sohn mit abgöttischer Verehrung hängt, und der brutalen, unduldsamen
Härte des Helden schildern, gipfelt das Hauptinteresse des gesammten Buchs
und zugleich die Meisterschaft der Darstellung des Autors.

Das Aelternpaar, das in stiller Abgeschiedenheit von der Welt grau
geworden ist, treu an dem Glauben und Aberglauben seines Volks hängt,
dessen einziges Lebensinteresse der Sohn ist, den sie nicht verstehen können
und der ihre Liebkosungen halb verlegen, halb mürrisch zurückweist, in dem sie
den großen Mann verehren, obgleich er Alles mit Füßen tritt, was ihnen heilig
ist — dieses alte Paar ist mit einer Wärme und Feinsinnigkeit gezeichnet,
wie sie nur aus dem Pinsel des ächten Künstlers quellen kann. Der Vater
bemüht sich, die Reminiscenzen seiner Jugendbildung aufzufrischen, und den
Interessen des Sohnes zu folgen, er steigert sich zu einer Freiheit und Kühn¬
heit des Urtheils, die ihn fortwährend mit seinen religiösen Anschauungen
in Gegensatz bringt, und kann es doch nicht dahin bringen, seinen Eugen zu
verstehen oder von diesem als Genosse angesehen zu werden; die Mutter ist
froh, wenn er ihre Liebkosungen nicht all' zu rauh abweist, und wenn die
Schöpfungen ihrer Kochkunst bei dem bedürsnißlosen Studenten Gnade finden;
ihre Religiosität verbirgt sie ängstlich, weil sie seinen Unglauben ahnt und
wenn Eugen mit dem Priester, der das Dankgebet sür seine glückliche An¬
kunft gehalten, gemeinsam Thee trinkt, so sind alle Wünsche der bescheidenen
Frau ersüllt. — Nach kurzem Zusammenleben mit den Alten, reißt Basarow
sich los, es zieht ihn in das Haus der schönen Wittwe Anna Odinzow, die
er durch Kirsanow kennen gelernt hat und die in der Nachbarschaft lebt.
Anna ist der Typus der Dame aus der großen russischen Gesellschaft, geist¬
reich, kokett, nicht ohne Empfindung, aber gewohnt, diese in Eis zu verwandeln,
sobald sie den andern Theil Feuer fangen sieht. Basarow, der die Aristokraten
haßt, ihre feinen Formen als zeitraubende Spielereien verachtet, der seinem
Freunde noch eben deducirt hat, „daß man als Physiologe nicht zweifelhaft dar-
über sein könne, was es mit den sogenannten geheimnißvollen Bezügen zwischen
Männern und Frauen eigentlich auf sich habe." — Basarow hat für die
schöne, some Frau eine Leidenschaft gesaßt, deren Flammen über seinem Kopf
zusammenschlagen. Anna Odinzow kann dem interessanten jungen Sonderling,
den sie in ihre Kreise gebannt, warme Theilnahe nicht versagen, aber das
Geständniß seiner Liebe bricht so jäh und wild hervor, daß die an Formen¬
schönheit gewöhnte Frau wie vor einem „Abgrund des Häßlichen" zurück¬
schrickt, und den Mann, der ihrer quietistischen Lebensbehandlung gefährlich
zu werden drohte, wenn auch mit getheiltem Herzen seiner Wege gehen läßt.
Inzwischen haben Annas junge Schwester und Arkady den Weg zu einander
gefunden und ihre sanften Herzen ohne großen Kampf zu friedlichem Bunde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/15>, abgerufen am 25.08.2024.