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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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gnug gesagt zu haben, wenn wir die Aufmerksamkeit Ihrer Leser für einige
Augenblicke auf die neueste politische Bewegung in der Schweiz zu lenken
versuchen. Den Anlaß dazu bieten die Eingangs citirten Schriften, nament¬
lich die des Herrn Tallichet, welche, obwohl in unsern Augen sich etwas zu
conservativ gegenüber den neuesten Bestrebungen verhaltend, doch soweit außer¬
halb der Parteiströmungen steht, um unserem Zwecke einer möglichst objectiven
Darstellung am meisten zu entsprechen. Die Meinungen sind natürlich bis zur
Stunde noch sehr getheilt und es wäre sehr anmaßlich für Einen, der nicht
einer bestimmten Partei praktisch dienen will, wenn er sich hier ein end-
giltiges Urtheil erlauben wollte. Ein solches kann erst der praktische Erfolg oder
vielmehr die praktischen Folgen, die aus den gegenwärtigen Versuchen hervor¬
gehen werden, an die Hand geben. Wie aber die spätere Geschichte die beste
Richterin über diese Dinge sein wird, so muß auch hier die vorangegangene
Geschichte als die beste Erklärerin gelten für die Bestrebungen der Gegen¬
wart. Daß dieser Aufschluß erst von einem Einzigen versucht wurde, müßte
mehr als befremden, wüßte man nicht, daß in der Schweiz die politische
Schriftstellerei viel weniger von Gelehrten, als von praktischen Staatsmän¬
nern gepflegt wird, welche die politischen Hergange wohl erlebt, selten aber
studirt haben und daher mehr den unmittelbaren praktischen, als den theore¬
tischen Gesichtspunkt, mehr den Blick in die nächste Zukunft als in die
Vergangenheit, die sich bei ihnen gewissermaßen von selbst versteht, walten
zu lassen pflegen. --

Die gegenwärtige Bewegung datirt schon von einigen Jahren her. Schon
lange zeigte sich überall im Volke eine gewisse Unbehaglichkeit und Unzu¬
friedenheit. Die theils durchgeführten, theils mißglückter Verfassungsrevisio¬
nen in Genf, der Waadt, in Bern Anfangs der sechsziger Jahre waren die
Vorläufer der jetzigen Umbildung; ebenso die versuchte und nur zum Theil
durchgeführte Revision der Bundesverfassung gegen das Ende dieses Jahr-
zehends. Da kam plötzlich die Züricher Bewegung am Ende des Jahres
1867, ohne daß man bisher eine Ahnung von ihrer Vorbereitung gehabt
hatte. Die Locher'schen Pamphlete schienen nur der Funken zu sein, welcher
den kaum bemerkten Zündstoff in Flammen setzte. Aber auch nachdem die
Bewegung durch die bekannte Volksabstimmung, bei der sich vier Fünftel der
Bürger für Totalrevision durch einen Verfassungsrath ausgesprochen, zu einem
ersten Abschluß gekommen war, wußte man deren Ursache nicht auf ihre
ersten Bestandtheile zurückzuführen. In dieser Beziehung war Zürich das
getreue Abbild der übrigen Schweiz und deshalb hatte jene Bewegung einen
so weitgehenden Wiederhall gefunden. Die nächsten Nachdarcantone Zürichs
folgten diesem fast unmittelbar und man fühlte schon jetzt, daß der Bund
selbst schließlich mit in dieselbe hineingezogen würde.


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gnug gesagt zu haben, wenn wir die Aufmerksamkeit Ihrer Leser für einige
Augenblicke auf die neueste politische Bewegung in der Schweiz zu lenken
versuchen. Den Anlaß dazu bieten die Eingangs citirten Schriften, nament¬
lich die des Herrn Tallichet, welche, obwohl in unsern Augen sich etwas zu
conservativ gegenüber den neuesten Bestrebungen verhaltend, doch soweit außer¬
halb der Parteiströmungen steht, um unserem Zwecke einer möglichst objectiven
Darstellung am meisten zu entsprechen. Die Meinungen sind natürlich bis zur
Stunde noch sehr getheilt und es wäre sehr anmaßlich für Einen, der nicht
einer bestimmten Partei praktisch dienen will, wenn er sich hier ein end-
giltiges Urtheil erlauben wollte. Ein solches kann erst der praktische Erfolg oder
vielmehr die praktischen Folgen, die aus den gegenwärtigen Versuchen hervor¬
gehen werden, an die Hand geben. Wie aber die spätere Geschichte die beste
Richterin über diese Dinge sein wird, so muß auch hier die vorangegangene
Geschichte als die beste Erklärerin gelten für die Bestrebungen der Gegen¬
wart. Daß dieser Aufschluß erst von einem Einzigen versucht wurde, müßte
mehr als befremden, wüßte man nicht, daß in der Schweiz die politische
Schriftstellerei viel weniger von Gelehrten, als von praktischen Staatsmän¬
nern gepflegt wird, welche die politischen Hergange wohl erlebt, selten aber
studirt haben und daher mehr den unmittelbaren praktischen, als den theore¬
tischen Gesichtspunkt, mehr den Blick in die nächste Zukunft als in die
Vergangenheit, die sich bei ihnen gewissermaßen von selbst versteht, walten
zu lassen pflegen. —

Die gegenwärtige Bewegung datirt schon von einigen Jahren her. Schon
lange zeigte sich überall im Volke eine gewisse Unbehaglichkeit und Unzu¬
friedenheit. Die theils durchgeführten, theils mißglückter Verfassungsrevisio¬
nen in Genf, der Waadt, in Bern Anfangs der sechsziger Jahre waren die
Vorläufer der jetzigen Umbildung; ebenso die versuchte und nur zum Theil
durchgeführte Revision der Bundesverfassung gegen das Ende dieses Jahr-
zehends. Da kam plötzlich die Züricher Bewegung am Ende des Jahres
1867, ohne daß man bisher eine Ahnung von ihrer Vorbereitung gehabt
hatte. Die Locher'schen Pamphlete schienen nur der Funken zu sein, welcher
den kaum bemerkten Zündstoff in Flammen setzte. Aber auch nachdem die
Bewegung durch die bekannte Volksabstimmung, bei der sich vier Fünftel der
Bürger für Totalrevision durch einen Verfassungsrath ausgesprochen, zu einem
ersten Abschluß gekommen war, wußte man deren Ursache nicht auf ihre
ersten Bestandtheile zurückzuführen. In dieser Beziehung war Zürich das
getreue Abbild der übrigen Schweiz und deshalb hatte jene Bewegung einen
so weitgehenden Wiederhall gefunden. Die nächsten Nachdarcantone Zürichs
folgten diesem fast unmittelbar und man fühlte schon jetzt, daß der Bund
selbst schließlich mit in dieselbe hineingezogen würde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/131>, abgerufen am 24.08.2024.