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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Um diese Erscheinung zu erklären, wirft Herr Tallichet einen Blick auf
den Charakter der politischen Systeme, die unter dem Namen der "Dreißiger
Regierungen" die Vorgänger der bis in die Gegenwart hineinreichenden
radicalen Aera waren. Dieselben hatten Vieles mit dem französischen Libe¬
ralismus jener Zeit gemein und namentlich haftet ihnen der Doktrinarismus
an, welcher sie endlich ihrem Untergang um die Mitte der vierziger Jahre
entgegenführte. Dieser Doktrinarismus der damaligen Machthaber wähnte,
wenn man die konstitutionelle Form habe, so besitze man alles was zum
Wohl des Gemeinwesens von nöthen sei, und diese übertriebene Achtung vor
der Form machte die Regierungen schwach und unschlüssig gerade in Mo¬
menten der Krisis. Dazu kam, daß die gebildeten Classen des Bürger¬
standes, welche damals das Staatsruder führten, in der nämlichen Zeit, wo
sie das Volk durch ihre liberalen Doctrinen zu sich emporheben zu können
meinten, sich immer mehr von ihm absonderten und entfernten, indem sie
sich immer enger zusammenschlossen und zuletzt sast eine Art von Kaste bil¬
deten. Eine Reaction gegen diesen doktrinären Liberalismus warf dann in
einer Reihe von cantonalen Revolutionen seit 1845 (Zürich) und 1846 (Bern)
die bisherigen Systeme zu Boden. Ihr Zweck war Erweiterung der Volks¬
rechte, wie man sich heutzutage ausdrücken würde, ihr letztes Ziel Neuge¬
staltung des eidgenössischen Bundes im Sinne größerer nationaler Einheit
und Freiheit.

Im Gegensatze zu den gestürzten Regierungen gaben sich die siegreichen
Führer der verschiedenen cantonalen Erhebungen eine ^äst dictatorische Ge¬
walt, indem sie sich auf die bisher von den Liberalen vernachlässigten Massen
des Volks stützten, die gesetzgebenden Räthe mit compacten Mehrheiten be¬
völkerten und die Liberalen, deren Talente und sociale Stellung sie fürchteten,
möglichst von jenen ausschlossen. Starke Regierungen und ergebene Große
Räthe -- das war der Protest des Volkes gegen den bisherigen Mißbrauch
der Kammerberedsamkeit, gegen die correcte, aber impotent gewordene
Theorie, -- derselbe Protest, der sich in Frankreich 1848--18S1 und in ähn¬
licher Weise in Deutschland wiederholte.

Einige zwanzig Jahre dauerte nun dieses radicale Regime, und wenn auch
in verschiedenen Cantonen verschiedene Schwankungen in den Parteiverhält¬
nissen stattfanden und auf kürzere oder längere Perioden selbst die Conser-
vativen oder die Altliberalen die Oberhand gewannen, so blieb sich doch im
Großen und Ganzen der Charakter der Zeit gleich: es war durchaus der
Geist des Radicalismus. welcher demselben das Gepräge gab und die neueste
demokratische Bewegung, wie sie von der Ostschweiz aus sich immer weiter
über die übrigen Cantone zu verbreiten beginnt, kann nur aus dieser radi¬
calen Anschauungsweise erklärt werden. --


Um diese Erscheinung zu erklären, wirft Herr Tallichet einen Blick auf
den Charakter der politischen Systeme, die unter dem Namen der „Dreißiger
Regierungen" die Vorgänger der bis in die Gegenwart hineinreichenden
radicalen Aera waren. Dieselben hatten Vieles mit dem französischen Libe¬
ralismus jener Zeit gemein und namentlich haftet ihnen der Doktrinarismus
an, welcher sie endlich ihrem Untergang um die Mitte der vierziger Jahre
entgegenführte. Dieser Doktrinarismus der damaligen Machthaber wähnte,
wenn man die konstitutionelle Form habe, so besitze man alles was zum
Wohl des Gemeinwesens von nöthen sei, und diese übertriebene Achtung vor
der Form machte die Regierungen schwach und unschlüssig gerade in Mo¬
menten der Krisis. Dazu kam, daß die gebildeten Classen des Bürger¬
standes, welche damals das Staatsruder führten, in der nämlichen Zeit, wo
sie das Volk durch ihre liberalen Doctrinen zu sich emporheben zu können
meinten, sich immer mehr von ihm absonderten und entfernten, indem sie
sich immer enger zusammenschlossen und zuletzt sast eine Art von Kaste bil¬
deten. Eine Reaction gegen diesen doktrinären Liberalismus warf dann in
einer Reihe von cantonalen Revolutionen seit 1845 (Zürich) und 1846 (Bern)
die bisherigen Systeme zu Boden. Ihr Zweck war Erweiterung der Volks¬
rechte, wie man sich heutzutage ausdrücken würde, ihr letztes Ziel Neuge¬
staltung des eidgenössischen Bundes im Sinne größerer nationaler Einheit
und Freiheit.

Im Gegensatze zu den gestürzten Regierungen gaben sich die siegreichen
Führer der verschiedenen cantonalen Erhebungen eine ^äst dictatorische Ge¬
walt, indem sie sich auf die bisher von den Liberalen vernachlässigten Massen
des Volks stützten, die gesetzgebenden Räthe mit compacten Mehrheiten be¬
völkerten und die Liberalen, deren Talente und sociale Stellung sie fürchteten,
möglichst von jenen ausschlossen. Starke Regierungen und ergebene Große
Räthe — das war der Protest des Volkes gegen den bisherigen Mißbrauch
der Kammerberedsamkeit, gegen die correcte, aber impotent gewordene
Theorie, — derselbe Protest, der sich in Frankreich 1848—18S1 und in ähn¬
licher Weise in Deutschland wiederholte.

Einige zwanzig Jahre dauerte nun dieses radicale Regime, und wenn auch
in verschiedenen Cantonen verschiedene Schwankungen in den Parteiverhält¬
nissen stattfanden und auf kürzere oder längere Perioden selbst die Conser-
vativen oder die Altliberalen die Oberhand gewannen, so blieb sich doch im
Großen und Ganzen der Charakter der Zeit gleich: es war durchaus der
Geist des Radicalismus. welcher demselben das Gepräge gab und die neueste
demokratische Bewegung, wie sie von der Ostschweiz aus sich immer weiter
über die übrigen Cantone zu verbreiten beginnt, kann nur aus dieser radi¬
calen Anschauungsweise erklärt werden. —


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[0132] Um diese Erscheinung zu erklären, wirft Herr Tallichet einen Blick auf den Charakter der politischen Systeme, die unter dem Namen der „Dreißiger Regierungen" die Vorgänger der bis in die Gegenwart hineinreichenden radicalen Aera waren. Dieselben hatten Vieles mit dem französischen Libe¬ ralismus jener Zeit gemein und namentlich haftet ihnen der Doktrinarismus an, welcher sie endlich ihrem Untergang um die Mitte der vierziger Jahre entgegenführte. Dieser Doktrinarismus der damaligen Machthaber wähnte, wenn man die konstitutionelle Form habe, so besitze man alles was zum Wohl des Gemeinwesens von nöthen sei, und diese übertriebene Achtung vor der Form machte die Regierungen schwach und unschlüssig gerade in Mo¬ menten der Krisis. Dazu kam, daß die gebildeten Classen des Bürger¬ standes, welche damals das Staatsruder führten, in der nämlichen Zeit, wo sie das Volk durch ihre liberalen Doctrinen zu sich emporheben zu können meinten, sich immer mehr von ihm absonderten und entfernten, indem sie sich immer enger zusammenschlossen und zuletzt sast eine Art von Kaste bil¬ deten. Eine Reaction gegen diesen doktrinären Liberalismus warf dann in einer Reihe von cantonalen Revolutionen seit 1845 (Zürich) und 1846 (Bern) die bisherigen Systeme zu Boden. Ihr Zweck war Erweiterung der Volks¬ rechte, wie man sich heutzutage ausdrücken würde, ihr letztes Ziel Neuge¬ staltung des eidgenössischen Bundes im Sinne größerer nationaler Einheit und Freiheit. Im Gegensatze zu den gestürzten Regierungen gaben sich die siegreichen Führer der verschiedenen cantonalen Erhebungen eine ^äst dictatorische Ge¬ walt, indem sie sich auf die bisher von den Liberalen vernachlässigten Massen des Volks stützten, die gesetzgebenden Räthe mit compacten Mehrheiten be¬ völkerten und die Liberalen, deren Talente und sociale Stellung sie fürchteten, möglichst von jenen ausschlossen. Starke Regierungen und ergebene Große Räthe — das war der Protest des Volkes gegen den bisherigen Mißbrauch der Kammerberedsamkeit, gegen die correcte, aber impotent gewordene Theorie, — derselbe Protest, der sich in Frankreich 1848—18S1 und in ähn¬ licher Weise in Deutschland wiederholte. Einige zwanzig Jahre dauerte nun dieses radicale Regime, und wenn auch in verschiedenen Cantonen verschiedene Schwankungen in den Parteiverhält¬ nissen stattfanden und auf kürzere oder längere Perioden selbst die Conser- vativen oder die Altliberalen die Oberhand gewannen, so blieb sich doch im Großen und Ganzen der Charakter der Zeit gleich: es war durchaus der Geist des Radicalismus. welcher demselben das Gepräge gab und die neueste demokratische Bewegung, wie sie von der Ostschweiz aus sich immer weiter über die übrigen Cantone zu verbreiten beginnt, kann nur aus dieser radi¬ calen Anschauungsweise erklärt werden. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/132>, abgerufen am 24.08.2024.