Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dung der Wahllisten erlassen, wodurch dieser Behörde ein ungebührlicher Ein¬
fluß eingeräumt und viele Wähler ausgeschlossen wurden, und gegen welches
die Liberalen vergebens protestüten. Außerdem stand dem Presbyterialrath
die Hilfe der Diaconen mit ihrem Einfluß auf die niederen unterstützungs¬
bedürftigen Classen zu Gebot, der Evangelisten, jener officiellen Laiengeist¬
lichen, die, dem Dienst irgend eines Predigers beigegeben, die Häuser der
Armen zu erbaulichen Zwecken besuchen, der Lehrer u. s. w. Besuche wurden
nicht gespart, Damen aus den höchsten Ständen waren in Bewegung. Außer
den Mahnungen von der Kanzel wurden die Wähler von den Pfarrern zu
besonderen Versammlungen zusammen berufen. Am Vorabend der Wahl er¬
schien eine Adresse des Presbyterialraths an die Gläubigen, welche die Religion
in Gefahr erklärte: "Es handelt sich darum Christen zu bleiben oder es nicht
mehr zu sein."

Diese Mittel wirkten. Der Sieg blieb den Orthodoxen, aber mit einer
so kleinen Mehrheit, daß man sie eine zufällige nennen durfte. Der sieg¬
reiche Candidat der Orthodoxen, der bei 2630 Abstimmenden die meisten
Stimmen erhielt, hatte nur 31 Stimmen mehr als der erste Candidat der
Liberalen. Hatten die Liberalen drei Jahre zuvor ein Drittel der Stimmen
gehabt, so zeigte die Neuwahl, daß sie jetzt nahezu die Hälfte der Stimm¬
berechtigten bildeten. Nicht minder charakteristisch war, daß Guizot, das
eigentliche Haupt der Orthodoxen, der Verfasser jener Blumenlese orthodoxer
Sätze, welche das Schiboleth der Partei waren, unterlag und erst in einer
zweiten Wahl mit einer Mehrheit von nur 9 Stimmen über den liberalen
Candidaten gewählt wurde.

Die Wahlen hatten also festgestellt, daß die Kirche von Paris in zwei
annähernd gleiche Hälften zerfiel. Die einfache Billigkeit schien daraus die
Lehre ziehen zu müssen, daß unter diesen Umständen keinem Theil das Recht
zukomme den anderen auszuschließen. Man konnte nicht mehr von einer
turbulenter Minderheit reden, welche die Kirche durch ihre Forderungen be¬
unruhige, man konnte überhaupt nicht mehr von Mehrheit und Minderheit
reden, und die numerische Gleichheit schien auch die Gleichheit der Rechte zu
verlangen. War für die orthodoxe Hälfte durch Prediger und Seelsorger
ihrer Farbe ausreichend gesorgt, so schienen auch die Liberalen im Recht,
wenn sie eine Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse und eine verhält¬
nißmäßige Vertretung im Kirchenregiment beanspruchten. Mehr wollten die
Liberalen gar nicht und ihr Verlangen schien um so berechtigter, als ihre
Meinung seit Jahren offenbar in steter Zunahme begriffen war. Aber die
Orthodoxie hätte nicht müssen Orthodoxie sein, wenn sie diese Folgerung aus
der Thatsache gezogen hätte. Sie entnahm sich die entgegengesetzte Lehre.
Indem sie sich die Gewalt unabwendbar entschlüpfen fühlte, war sie ent-


dung der Wahllisten erlassen, wodurch dieser Behörde ein ungebührlicher Ein¬
fluß eingeräumt und viele Wähler ausgeschlossen wurden, und gegen welches
die Liberalen vergebens protestüten. Außerdem stand dem Presbyterialrath
die Hilfe der Diaconen mit ihrem Einfluß auf die niederen unterstützungs¬
bedürftigen Classen zu Gebot, der Evangelisten, jener officiellen Laiengeist¬
lichen, die, dem Dienst irgend eines Predigers beigegeben, die Häuser der
Armen zu erbaulichen Zwecken besuchen, der Lehrer u. s. w. Besuche wurden
nicht gespart, Damen aus den höchsten Ständen waren in Bewegung. Außer
den Mahnungen von der Kanzel wurden die Wähler von den Pfarrern zu
besonderen Versammlungen zusammen berufen. Am Vorabend der Wahl er¬
schien eine Adresse des Presbyterialraths an die Gläubigen, welche die Religion
in Gefahr erklärte: „Es handelt sich darum Christen zu bleiben oder es nicht
mehr zu sein."

Diese Mittel wirkten. Der Sieg blieb den Orthodoxen, aber mit einer
so kleinen Mehrheit, daß man sie eine zufällige nennen durfte. Der sieg¬
reiche Candidat der Orthodoxen, der bei 2630 Abstimmenden die meisten
Stimmen erhielt, hatte nur 31 Stimmen mehr als der erste Candidat der
Liberalen. Hatten die Liberalen drei Jahre zuvor ein Drittel der Stimmen
gehabt, so zeigte die Neuwahl, daß sie jetzt nahezu die Hälfte der Stimm¬
berechtigten bildeten. Nicht minder charakteristisch war, daß Guizot, das
eigentliche Haupt der Orthodoxen, der Verfasser jener Blumenlese orthodoxer
Sätze, welche das Schiboleth der Partei waren, unterlag und erst in einer
zweiten Wahl mit einer Mehrheit von nur 9 Stimmen über den liberalen
Candidaten gewählt wurde.

Die Wahlen hatten also festgestellt, daß die Kirche von Paris in zwei
annähernd gleiche Hälften zerfiel. Die einfache Billigkeit schien daraus die
Lehre ziehen zu müssen, daß unter diesen Umständen keinem Theil das Recht
zukomme den anderen auszuschließen. Man konnte nicht mehr von einer
turbulenter Minderheit reden, welche die Kirche durch ihre Forderungen be¬
unruhige, man konnte überhaupt nicht mehr von Mehrheit und Minderheit
reden, und die numerische Gleichheit schien auch die Gleichheit der Rechte zu
verlangen. War für die orthodoxe Hälfte durch Prediger und Seelsorger
ihrer Farbe ausreichend gesorgt, so schienen auch die Liberalen im Recht,
wenn sie eine Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse und eine verhält¬
nißmäßige Vertretung im Kirchenregiment beanspruchten. Mehr wollten die
Liberalen gar nicht und ihr Verlangen schien um so berechtigter, als ihre
Meinung seit Jahren offenbar in steter Zunahme begriffen war. Aber die
Orthodoxie hätte nicht müssen Orthodoxie sein, wenn sie diese Folgerung aus
der Thatsache gezogen hätte. Sie entnahm sich die entgegengesetzte Lehre.
Indem sie sich die Gewalt unabwendbar entschlüpfen fühlte, war sie ent-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0102" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121323"/>
          <p xml:id="ID_342" prev="#ID_341"> dung der Wahllisten erlassen, wodurch dieser Behörde ein ungebührlicher Ein¬<lb/>
fluß eingeräumt und viele Wähler ausgeschlossen wurden, und gegen welches<lb/>
die Liberalen vergebens protestüten. Außerdem stand dem Presbyterialrath<lb/>
die Hilfe der Diaconen mit ihrem Einfluß auf die niederen unterstützungs¬<lb/>
bedürftigen Classen zu Gebot, der Evangelisten, jener officiellen Laiengeist¬<lb/>
lichen, die, dem Dienst irgend eines Predigers beigegeben, die Häuser der<lb/>
Armen zu erbaulichen Zwecken besuchen, der Lehrer u. s. w. Besuche wurden<lb/>
nicht gespart, Damen aus den höchsten Ständen waren in Bewegung. Außer<lb/>
den Mahnungen von der Kanzel wurden die Wähler von den Pfarrern zu<lb/>
besonderen Versammlungen zusammen berufen. Am Vorabend der Wahl er¬<lb/>
schien eine Adresse des Presbyterialraths an die Gläubigen, welche die Religion<lb/>
in Gefahr erklärte: &#x201E;Es handelt sich darum Christen zu bleiben oder es nicht<lb/>
mehr zu sein."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_343"> Diese Mittel wirkten. Der Sieg blieb den Orthodoxen, aber mit einer<lb/>
so kleinen Mehrheit, daß man sie eine zufällige nennen durfte. Der sieg¬<lb/>
reiche Candidat der Orthodoxen, der bei 2630 Abstimmenden die meisten<lb/>
Stimmen erhielt, hatte nur 31 Stimmen mehr als der erste Candidat der<lb/>
Liberalen. Hatten die Liberalen drei Jahre zuvor ein Drittel der Stimmen<lb/>
gehabt, so zeigte die Neuwahl, daß sie jetzt nahezu die Hälfte der Stimm¬<lb/>
berechtigten bildeten. Nicht minder charakteristisch war, daß Guizot, das<lb/>
eigentliche Haupt der Orthodoxen, der Verfasser jener Blumenlese orthodoxer<lb/>
Sätze, welche das Schiboleth der Partei waren, unterlag und erst in einer<lb/>
zweiten Wahl mit einer Mehrheit von nur 9 Stimmen über den liberalen<lb/>
Candidaten gewählt wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_344" next="#ID_345"> Die Wahlen hatten also festgestellt, daß die Kirche von Paris in zwei<lb/>
annähernd gleiche Hälften zerfiel. Die einfache Billigkeit schien daraus die<lb/>
Lehre ziehen zu müssen, daß unter diesen Umständen keinem Theil das Recht<lb/>
zukomme den anderen auszuschließen. Man konnte nicht mehr von einer<lb/>
turbulenter Minderheit reden, welche die Kirche durch ihre Forderungen be¬<lb/>
unruhige, man konnte überhaupt nicht mehr von Mehrheit und Minderheit<lb/>
reden, und die numerische Gleichheit schien auch die Gleichheit der Rechte zu<lb/>
verlangen. War für die orthodoxe Hälfte durch Prediger und Seelsorger<lb/>
ihrer Farbe ausreichend gesorgt, so schienen auch die Liberalen im Recht,<lb/>
wenn sie eine Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse und eine verhält¬<lb/>
nißmäßige Vertretung im Kirchenregiment beanspruchten. Mehr wollten die<lb/>
Liberalen gar nicht und ihr Verlangen schien um so berechtigter, als ihre<lb/>
Meinung seit Jahren offenbar in steter Zunahme begriffen war. Aber die<lb/>
Orthodoxie hätte nicht müssen Orthodoxie sein, wenn sie diese Folgerung aus<lb/>
der Thatsache gezogen hätte. Sie entnahm sich die entgegengesetzte Lehre.<lb/>
Indem sie sich die Gewalt unabwendbar entschlüpfen fühlte, war sie ent-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0102] dung der Wahllisten erlassen, wodurch dieser Behörde ein ungebührlicher Ein¬ fluß eingeräumt und viele Wähler ausgeschlossen wurden, und gegen welches die Liberalen vergebens protestüten. Außerdem stand dem Presbyterialrath die Hilfe der Diaconen mit ihrem Einfluß auf die niederen unterstützungs¬ bedürftigen Classen zu Gebot, der Evangelisten, jener officiellen Laiengeist¬ lichen, die, dem Dienst irgend eines Predigers beigegeben, die Häuser der Armen zu erbaulichen Zwecken besuchen, der Lehrer u. s. w. Besuche wurden nicht gespart, Damen aus den höchsten Ständen waren in Bewegung. Außer den Mahnungen von der Kanzel wurden die Wähler von den Pfarrern zu besonderen Versammlungen zusammen berufen. Am Vorabend der Wahl er¬ schien eine Adresse des Presbyterialraths an die Gläubigen, welche die Religion in Gefahr erklärte: „Es handelt sich darum Christen zu bleiben oder es nicht mehr zu sein." Diese Mittel wirkten. Der Sieg blieb den Orthodoxen, aber mit einer so kleinen Mehrheit, daß man sie eine zufällige nennen durfte. Der sieg¬ reiche Candidat der Orthodoxen, der bei 2630 Abstimmenden die meisten Stimmen erhielt, hatte nur 31 Stimmen mehr als der erste Candidat der Liberalen. Hatten die Liberalen drei Jahre zuvor ein Drittel der Stimmen gehabt, so zeigte die Neuwahl, daß sie jetzt nahezu die Hälfte der Stimm¬ berechtigten bildeten. Nicht minder charakteristisch war, daß Guizot, das eigentliche Haupt der Orthodoxen, der Verfasser jener Blumenlese orthodoxer Sätze, welche das Schiboleth der Partei waren, unterlag und erst in einer zweiten Wahl mit einer Mehrheit von nur 9 Stimmen über den liberalen Candidaten gewählt wurde. Die Wahlen hatten also festgestellt, daß die Kirche von Paris in zwei annähernd gleiche Hälften zerfiel. Die einfache Billigkeit schien daraus die Lehre ziehen zu müssen, daß unter diesen Umständen keinem Theil das Recht zukomme den anderen auszuschließen. Man konnte nicht mehr von einer turbulenter Minderheit reden, welche die Kirche durch ihre Forderungen be¬ unruhige, man konnte überhaupt nicht mehr von Mehrheit und Minderheit reden, und die numerische Gleichheit schien auch die Gleichheit der Rechte zu verlangen. War für die orthodoxe Hälfte durch Prediger und Seelsorger ihrer Farbe ausreichend gesorgt, so schienen auch die Liberalen im Recht, wenn sie eine Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse und eine verhält¬ nißmäßige Vertretung im Kirchenregiment beanspruchten. Mehr wollten die Liberalen gar nicht und ihr Verlangen schien um so berechtigter, als ihre Meinung seit Jahren offenbar in steter Zunahme begriffen war. Aber die Orthodoxie hätte nicht müssen Orthodoxie sein, wenn sie diese Folgerung aus der Thatsache gezogen hätte. Sie entnahm sich die entgegengesetzte Lehre. Indem sie sich die Gewalt unabwendbar entschlüpfen fühlte, war sie ent-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/102
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/102>, abgerufen am 24.08.2024.