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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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schlössen, wenigstens die Zeit, die ihr der precäre Sieg gelassen, möglichst
auszubeuten. Drei Wochen nach der Wahl wurde Martins wiederholtes Ge¬
such abermals zurückgewiesen. Das System der Exklusivität sollte vollendet,
die Dissentirenden unterdrückt oder zum Austritt genöthigt werden. Unter
einem Dutzend Prediger in Paris waren noch zwei Liberale, Coquerel der
Vater und Martin-Paschoud, beide waren alt, man verweigerte ihnen
liberale Amtsverweser zu bestellen, man wartete nur auf ihren Abgang, um
diese gleichfalls durch Orthodoxe zu ersetzen. Oder nein, man wartete nicht
einmal darauf, sondern man erklärte dem Pfarrer Martin am 12. Mai
1863, wenn er nicht binnen zwei Monaten einen neuen Vicar annehme,
werde der Presbyterialrath gegen ihn einschreiten.

Am folgenden Tage erwiederte Martin, daß er nicht beabsichtige, einen
anderen Suffragan vorzuschlagen und daß er inzwischen die Functionen seines
Amts selbst fortführen werde. Nach sechs Monaten, am 20. October, hielt
der Presbyterialrath wieder eine Sitzung, worin er erklärte, daß zwischen
ihm und dem Pfarrer Martin ein Conflict bestehe, der vor die höhere Be¬
hörde, das Consistorium, zu bringen sei. Dies hieß nun nichts anderes, als
sich zum Richter in eigener Person machen. Denn das Pariser Consistorium
besteht aus 32 Mitgliedern, nämlich den 21 Mitgliedern des Presbyterial-
raths und den 12 Pfarrern und Laienvertretern der anderen zum Confistorial-
bezirk gehörigen Gemeinden. Die höhere Autorität des Consistoriums ist
also in diesem Fall eine reine Fiction, der Presbyterialrath von Paris be¬
herrscht jederzeit das Consistorium. In derselben Sitzung setzte der Pres¬
byterialrath sein intolerantes Verfahren gegen Als. Coquerel Vater fort.
Der dritte Geistliche, den dieser als seinen Suffragan vorschlug, Pfarrer
Vezes, wurde ihm ebenso verweigert, wie früher die Pfarrer Valös und
Rives, zum deutlichen Beweis, daß diese Behörde entschlossen war, jedem
liberalen Geistlichen fortan die Kanzeln von Paris zu verschließen, ja die
betagten liberalen Pfarrer zum Rücktritt zu nöthigen. Das Consistorium
fühlte sich stark genug, diese Maßregel bald gegen Martin direct anzuwenden.
Im November setzte es eine eigene Commission ein, in welcher sich Guizot
befand, und welche die Aufgabe hatte, sich mit Martin ins Benehmen zu
setzen und je nach dem Erfolg Vorschläge zu machen. Im December ver¬
sammelte sich die Commission, und da Martin gegen das ganze Verfahren
protestirte und in seinen Entschlüssen verharrte, trug sie am 5. Januar 1866
auf die Amtsentsetzung Martin-Paschoud's an, die vom Consistorium sofort
genehmigt wurde. Am 12. Januar sollte die Neuwahl vorgenommen
werden.

Diesmal war nun doch der Bogen überspannt, der Fanatismus hatte
über die gewöhnlichste Klugheitsrücksicht gesiegt. Jetzt handelte es sich nicht


schlössen, wenigstens die Zeit, die ihr der precäre Sieg gelassen, möglichst
auszubeuten. Drei Wochen nach der Wahl wurde Martins wiederholtes Ge¬
such abermals zurückgewiesen. Das System der Exklusivität sollte vollendet,
die Dissentirenden unterdrückt oder zum Austritt genöthigt werden. Unter
einem Dutzend Prediger in Paris waren noch zwei Liberale, Coquerel der
Vater und Martin-Paschoud, beide waren alt, man verweigerte ihnen
liberale Amtsverweser zu bestellen, man wartete nur auf ihren Abgang, um
diese gleichfalls durch Orthodoxe zu ersetzen. Oder nein, man wartete nicht
einmal darauf, sondern man erklärte dem Pfarrer Martin am 12. Mai
1863, wenn er nicht binnen zwei Monaten einen neuen Vicar annehme,
werde der Presbyterialrath gegen ihn einschreiten.

Am folgenden Tage erwiederte Martin, daß er nicht beabsichtige, einen
anderen Suffragan vorzuschlagen und daß er inzwischen die Functionen seines
Amts selbst fortführen werde. Nach sechs Monaten, am 20. October, hielt
der Presbyterialrath wieder eine Sitzung, worin er erklärte, daß zwischen
ihm und dem Pfarrer Martin ein Conflict bestehe, der vor die höhere Be¬
hörde, das Consistorium, zu bringen sei. Dies hieß nun nichts anderes, als
sich zum Richter in eigener Person machen. Denn das Pariser Consistorium
besteht aus 32 Mitgliedern, nämlich den 21 Mitgliedern des Presbyterial-
raths und den 12 Pfarrern und Laienvertretern der anderen zum Confistorial-
bezirk gehörigen Gemeinden. Die höhere Autorität des Consistoriums ist
also in diesem Fall eine reine Fiction, der Presbyterialrath von Paris be¬
herrscht jederzeit das Consistorium. In derselben Sitzung setzte der Pres¬
byterialrath sein intolerantes Verfahren gegen Als. Coquerel Vater fort.
Der dritte Geistliche, den dieser als seinen Suffragan vorschlug, Pfarrer
Vezes, wurde ihm ebenso verweigert, wie früher die Pfarrer Valös und
Rives, zum deutlichen Beweis, daß diese Behörde entschlossen war, jedem
liberalen Geistlichen fortan die Kanzeln von Paris zu verschließen, ja die
betagten liberalen Pfarrer zum Rücktritt zu nöthigen. Das Consistorium
fühlte sich stark genug, diese Maßregel bald gegen Martin direct anzuwenden.
Im November setzte es eine eigene Commission ein, in welcher sich Guizot
befand, und welche die Aufgabe hatte, sich mit Martin ins Benehmen zu
setzen und je nach dem Erfolg Vorschläge zu machen. Im December ver¬
sammelte sich die Commission, und da Martin gegen das ganze Verfahren
protestirte und in seinen Entschlüssen verharrte, trug sie am 5. Januar 1866
auf die Amtsentsetzung Martin-Paschoud's an, die vom Consistorium sofort
genehmigt wurde. Am 12. Januar sollte die Neuwahl vorgenommen
werden.

Diesmal war nun doch der Bogen überspannt, der Fanatismus hatte
über die gewöhnlichste Klugheitsrücksicht gesiegt. Jetzt handelte es sich nicht


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[0103] schlössen, wenigstens die Zeit, die ihr der precäre Sieg gelassen, möglichst auszubeuten. Drei Wochen nach der Wahl wurde Martins wiederholtes Ge¬ such abermals zurückgewiesen. Das System der Exklusivität sollte vollendet, die Dissentirenden unterdrückt oder zum Austritt genöthigt werden. Unter einem Dutzend Prediger in Paris waren noch zwei Liberale, Coquerel der Vater und Martin-Paschoud, beide waren alt, man verweigerte ihnen liberale Amtsverweser zu bestellen, man wartete nur auf ihren Abgang, um diese gleichfalls durch Orthodoxe zu ersetzen. Oder nein, man wartete nicht einmal darauf, sondern man erklärte dem Pfarrer Martin am 12. Mai 1863, wenn er nicht binnen zwei Monaten einen neuen Vicar annehme, werde der Presbyterialrath gegen ihn einschreiten. Am folgenden Tage erwiederte Martin, daß er nicht beabsichtige, einen anderen Suffragan vorzuschlagen und daß er inzwischen die Functionen seines Amts selbst fortführen werde. Nach sechs Monaten, am 20. October, hielt der Presbyterialrath wieder eine Sitzung, worin er erklärte, daß zwischen ihm und dem Pfarrer Martin ein Conflict bestehe, der vor die höhere Be¬ hörde, das Consistorium, zu bringen sei. Dies hieß nun nichts anderes, als sich zum Richter in eigener Person machen. Denn das Pariser Consistorium besteht aus 32 Mitgliedern, nämlich den 21 Mitgliedern des Presbyterial- raths und den 12 Pfarrern und Laienvertretern der anderen zum Confistorial- bezirk gehörigen Gemeinden. Die höhere Autorität des Consistoriums ist also in diesem Fall eine reine Fiction, der Presbyterialrath von Paris be¬ herrscht jederzeit das Consistorium. In derselben Sitzung setzte der Pres¬ byterialrath sein intolerantes Verfahren gegen Als. Coquerel Vater fort. Der dritte Geistliche, den dieser als seinen Suffragan vorschlug, Pfarrer Vezes, wurde ihm ebenso verweigert, wie früher die Pfarrer Valös und Rives, zum deutlichen Beweis, daß diese Behörde entschlossen war, jedem liberalen Geistlichen fortan die Kanzeln von Paris zu verschließen, ja die betagten liberalen Pfarrer zum Rücktritt zu nöthigen. Das Consistorium fühlte sich stark genug, diese Maßregel bald gegen Martin direct anzuwenden. Im November setzte es eine eigene Commission ein, in welcher sich Guizot befand, und welche die Aufgabe hatte, sich mit Martin ins Benehmen zu setzen und je nach dem Erfolg Vorschläge zu machen. Im December ver¬ sammelte sich die Commission, und da Martin gegen das ganze Verfahren protestirte und in seinen Entschlüssen verharrte, trug sie am 5. Januar 1866 auf die Amtsentsetzung Martin-Paschoud's an, die vom Consistorium sofort genehmigt wurde. Am 12. Januar sollte die Neuwahl vorgenommen werden. Diesmal war nun doch der Bogen überspannt, der Fanatismus hatte über die gewöhnlichste Klugheitsrücksicht gesiegt. Jetzt handelte es sich nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/103>, abgerufen am 24.08.2024.