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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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tigem wirklich seine Kräfte überstieg, sich zeitweilig nach einer Hülfe umsah,
die er selbstverständlich nicht im orthodoxen Lager suchte, so gab das dem
Consistorium neuen Anlaß zu kleinlichen Chicanen. Der Zustand schien un¬
erträglich und bereits ließ das Consistorium Drohungen fallen, daß es sich
zu eigenmächtiger Abhilfe genöthigt sehen werde. Im December erneuerte
sich auch die Unduldsamkeit gegen Athanase Coquerel, Vater, indem man ihm
den gewählten Suffragan, Pfarrer Rives, verweigerte.

So fehlte es der kirchlichen Presse auf beiden Seiten nicht an reichem
Stoff der Polemik, als im Januar 1865 die Zeit der Neuwahlen der Pres-
byterialräthe heranrückte. Gespannt sah man der Entscheidung in Paris ent¬
gegen. Denn während an den anderen Orten die Minderheit sich fast ohne
Anstand der Mehrheit unterordnete, ob diese den Liberalen oder den Ortho¬
doxen gehörte, hatte die Wahl in Paris eine principielle Bedeutung. siegten
die Liberalen, so war die Bestätigung der Wahl Coquerel's vorauszusehen,
der Hauptanlaß des Streits war beseitigt, der Kirche der Frieden wieder¬
gegeben; die Parität beider Richtungen innerhalb des Protestantismus an¬
erkannt. Umgekehrt, wenn die Orthodoxen abermals siegten, dauerte der
Streit, der die ganze Kirche in Athem hielt, ungelöst fort, zum mindesten bis
zu den nächsten Wahlen. "Die Frage ist die", schrieb Etienne Coquerel im
"Lien" (11. Januar), "wird man frei sein im Schooß der Kirche oder wird
man Sclave sein in der Kirche und frei nur unter der Bedingung, aus ihr
auszutreten? Besteht die christliche Freiheit darin, jede Meinung in ein ge¬
schlossenes, intolerantes, enges Kirchlein einzupferchen, oder alle verschiedenen
Meinungen, die sich aufs Evangelium berufen, in einer weiten Kirche zu
vereinigen, wo wie in der ersten Kirche, der Kirche Jesu und der Apostel, die
dogmatischen Unterschiede beherrscht sind von der Macht des religiösen Ge¬
fühls und der christlichen Liebe?" Und ein anderesmal: "Wenn die liberale
Meinung siegt, so ist gewiß, daß der Friede wieder gekräftigt wird und die
Zukunft sich ruhiger anläßt, und dies einfach, weil die Liberalen keinen der
Ansprüche erheben, welche die orthodoxe Partei nicht mehr verhehlt. Wollen
wir die orthodoxen Priester aus ihren Gemeinden vertreiben? Machen wir
den Anspruch, allein die Wahrheit, allein das Recht auf die Kirche zu be¬
sitzen? Jedermann weiß, daß das Gegentheil der Fall ist. Wir haben jeder¬
zeit ihnen das gleiche Recht, wie uns, zugesprochen, in der Kirche zu bleiben,
und wie wir vertreten zu sein in den kirchlichen Körperschaften und unter
den Laien, welche unsere Presbyterialräthe und Consistorien bilden."

Von beiden Seiten wurden die größten Wahlanstrengungen gemacht.
Aber außer den geistigen Mitteln der Presse standen den Orthodoxen noch
die Mittel der kirchlichen Disciplin zu Gebot. Schon im Juli 1863 hatte
das weise vorsvrgende Consistorium ein willkürliches Reglement für die Bil-


tigem wirklich seine Kräfte überstieg, sich zeitweilig nach einer Hülfe umsah,
die er selbstverständlich nicht im orthodoxen Lager suchte, so gab das dem
Consistorium neuen Anlaß zu kleinlichen Chicanen. Der Zustand schien un¬
erträglich und bereits ließ das Consistorium Drohungen fallen, daß es sich
zu eigenmächtiger Abhilfe genöthigt sehen werde. Im December erneuerte
sich auch die Unduldsamkeit gegen Athanase Coquerel, Vater, indem man ihm
den gewählten Suffragan, Pfarrer Rives, verweigerte.

So fehlte es der kirchlichen Presse auf beiden Seiten nicht an reichem
Stoff der Polemik, als im Januar 1865 die Zeit der Neuwahlen der Pres-
byterialräthe heranrückte. Gespannt sah man der Entscheidung in Paris ent¬
gegen. Denn während an den anderen Orten die Minderheit sich fast ohne
Anstand der Mehrheit unterordnete, ob diese den Liberalen oder den Ortho¬
doxen gehörte, hatte die Wahl in Paris eine principielle Bedeutung. siegten
die Liberalen, so war die Bestätigung der Wahl Coquerel's vorauszusehen,
der Hauptanlaß des Streits war beseitigt, der Kirche der Frieden wieder¬
gegeben; die Parität beider Richtungen innerhalb des Protestantismus an¬
erkannt. Umgekehrt, wenn die Orthodoxen abermals siegten, dauerte der
Streit, der die ganze Kirche in Athem hielt, ungelöst fort, zum mindesten bis
zu den nächsten Wahlen. „Die Frage ist die", schrieb Etienne Coquerel im
„Lien" (11. Januar), „wird man frei sein im Schooß der Kirche oder wird
man Sclave sein in der Kirche und frei nur unter der Bedingung, aus ihr
auszutreten? Besteht die christliche Freiheit darin, jede Meinung in ein ge¬
schlossenes, intolerantes, enges Kirchlein einzupferchen, oder alle verschiedenen
Meinungen, die sich aufs Evangelium berufen, in einer weiten Kirche zu
vereinigen, wo wie in der ersten Kirche, der Kirche Jesu und der Apostel, die
dogmatischen Unterschiede beherrscht sind von der Macht des religiösen Ge¬
fühls und der christlichen Liebe?" Und ein anderesmal: „Wenn die liberale
Meinung siegt, so ist gewiß, daß der Friede wieder gekräftigt wird und die
Zukunft sich ruhiger anläßt, und dies einfach, weil die Liberalen keinen der
Ansprüche erheben, welche die orthodoxe Partei nicht mehr verhehlt. Wollen
wir die orthodoxen Priester aus ihren Gemeinden vertreiben? Machen wir
den Anspruch, allein die Wahrheit, allein das Recht auf die Kirche zu be¬
sitzen? Jedermann weiß, daß das Gegentheil der Fall ist. Wir haben jeder¬
zeit ihnen das gleiche Recht, wie uns, zugesprochen, in der Kirche zu bleiben,
und wie wir vertreten zu sein in den kirchlichen Körperschaften und unter
den Laien, welche unsere Presbyterialräthe und Consistorien bilden."

Von beiden Seiten wurden die größten Wahlanstrengungen gemacht.
Aber außer den geistigen Mitteln der Presse standen den Orthodoxen noch
die Mittel der kirchlichen Disciplin zu Gebot. Schon im Juli 1863 hatte
das weise vorsvrgende Consistorium ein willkürliches Reglement für die Bil-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/101>, abgerufen am 02.10.2024.