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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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und anziehende Weise in Beziehung zu setzen. Durch die Bilder aus dem
"Tagebuch eines Jägers" lernten wir, was es mit der Unfreiheit eines nach
Millionen zählenden Volks eigentlich auf sich habe, und daß der Fluch der¬
selben die Herren ebenso treffe, wie die Knechte; Berufslosigigkeit des Adels,
Entsittlichung des Beamtenthums, Corruption der höheren Gesellschaft, Un¬
wahrheit und Hohlheit der auf geistiges und wissenschaftliches Leben gerichteten
Bestrebungen -- Alles wurde auf die eine Quelle zurückzuführen, in deren
trüben Wassern sich der graue Himmel, der über Rußland lag, melancholisch
spiegelte.

Zu diesem Interesse trat bald ein anderes. Turgenjews spätere Schriften,
welche die aus der Krisis der Jahre 1860--63 entwickelten Zustände zum Gegen¬
stande hatten (und wenigstens durch Auszüge und französische Uebersetzungen
rasch verbreitet wurden), schienen uns in frühere Abschnitte unserer eigenen
Existenz zurückzuführen. Was wir von jung- und altrussischen Romantikern.
Socialisten. Materialisten und Communisten zu hören bekamen, erinnerte uns
an die Tage, in denen unsere Väter unter dem Eindruck der großen geistigen
Umwälzung gestanden hatten, welche der Julirevolution gefolgt war. Daß
jenseit der Weichsel der Versuch gemacht wurde, nicht nur mit der über¬
kommenen politischen Tradition zu brechen, sondern alle hergebrachten Be¬
griffe von Gott, Staat, Gesellschaft, Ehe und Sittengesetz kritischer Revision
zu unterziehen, die alte Welt in Trümmer zu schlagen und auf ihren Ruinen
einen neuen, in die Wolken ragenden Prachtbau, mit wohnlichen Erdgeschoß
für die unteren, grenzenlos freier Aussicht für die gebildeten Classen auf¬
zuführen -- das war ja nur eine zweite Auflage des Experiments, welches
unsere eigenen Dichter und Politiker vor dreißig Jahren angestellt hatten!
Dieselben Namen, denen Jungdeutschland seine Brand- und Sühnopfer dar¬
gebracht hatte, tauchten wieder auf, dieselben Systeme, welche uns geblendet
hatten, machten ihre trügerische Anziehungskraft ans die östlichen Nachbaren
geltend, und was uns von der nihilistischen Jugend erzählt wurde, die in
Petersburg und Moskau ihr Wesen trieb, war Zug für Zug die Geschichte
von jenen Berliner "Freien", die ihre Orgien mit dem Trinkspruch "Pereat
Gott" begannen und sich heute als Pensionaire der Reactionspartei über den
ungeheuren Katzenjammer zu trösten suchen, der ihnen seit der Enttäuschung
von 1848 in den Gliedern liegt und den sie nicht mehr los werden können.

Für Rußland ist auch diese Phase inzwischen vorübergegangen und des
Dichters letzte Schriften haben uns bereits mit den "Allerneusten" bekannt
gemacht, die als Träger des nationalen Princips das alte mit dem neuen
Rußland auf Unkosten der deutschen Und polnischen Grenzprovinzen zu ver¬
söhnen bemüht sind.

Das vorliegende Buch, der Roman "Väter und Söhne", der zum


und anziehende Weise in Beziehung zu setzen. Durch die Bilder aus dem
„Tagebuch eines Jägers" lernten wir, was es mit der Unfreiheit eines nach
Millionen zählenden Volks eigentlich auf sich habe, und daß der Fluch der¬
selben die Herren ebenso treffe, wie die Knechte; Berufslosigigkeit des Adels,
Entsittlichung des Beamtenthums, Corruption der höheren Gesellschaft, Un¬
wahrheit und Hohlheit der auf geistiges und wissenschaftliches Leben gerichteten
Bestrebungen — Alles wurde auf die eine Quelle zurückzuführen, in deren
trüben Wassern sich der graue Himmel, der über Rußland lag, melancholisch
spiegelte.

Zu diesem Interesse trat bald ein anderes. Turgenjews spätere Schriften,
welche die aus der Krisis der Jahre 1860—63 entwickelten Zustände zum Gegen¬
stande hatten (und wenigstens durch Auszüge und französische Uebersetzungen
rasch verbreitet wurden), schienen uns in frühere Abschnitte unserer eigenen
Existenz zurückzuführen. Was wir von jung- und altrussischen Romantikern.
Socialisten. Materialisten und Communisten zu hören bekamen, erinnerte uns
an die Tage, in denen unsere Väter unter dem Eindruck der großen geistigen
Umwälzung gestanden hatten, welche der Julirevolution gefolgt war. Daß
jenseit der Weichsel der Versuch gemacht wurde, nicht nur mit der über¬
kommenen politischen Tradition zu brechen, sondern alle hergebrachten Be¬
griffe von Gott, Staat, Gesellschaft, Ehe und Sittengesetz kritischer Revision
zu unterziehen, die alte Welt in Trümmer zu schlagen und auf ihren Ruinen
einen neuen, in die Wolken ragenden Prachtbau, mit wohnlichen Erdgeschoß
für die unteren, grenzenlos freier Aussicht für die gebildeten Classen auf¬
zuführen — das war ja nur eine zweite Auflage des Experiments, welches
unsere eigenen Dichter und Politiker vor dreißig Jahren angestellt hatten!
Dieselben Namen, denen Jungdeutschland seine Brand- und Sühnopfer dar¬
gebracht hatte, tauchten wieder auf, dieselben Systeme, welche uns geblendet
hatten, machten ihre trügerische Anziehungskraft ans die östlichen Nachbaren
geltend, und was uns von der nihilistischen Jugend erzählt wurde, die in
Petersburg und Moskau ihr Wesen trieb, war Zug für Zug die Geschichte
von jenen Berliner „Freien", die ihre Orgien mit dem Trinkspruch „Pereat
Gott" begannen und sich heute als Pensionaire der Reactionspartei über den
ungeheuren Katzenjammer zu trösten suchen, der ihnen seit der Enttäuschung
von 1848 in den Gliedern liegt und den sie nicht mehr los werden können.

Für Rußland ist auch diese Phase inzwischen vorübergegangen und des
Dichters letzte Schriften haben uns bereits mit den „Allerneusten" bekannt
gemacht, die als Träger des nationalen Princips das alte mit dem neuen
Rußland auf Unkosten der deutschen Und polnischen Grenzprovinzen zu ver¬
söhnen bemüht sind.

Das vorliegende Buch, der Roman „Väter und Söhne", der zum


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/10>, abgerufen am 24.08.2024.