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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Iwan Turgenjews "Väter und HHHne.

Ausgewählte Schriften Iwan Turgenjew's. Autorisirte Uebersetzung. Erster Band:
"Väter und Söhne." Mitau, Verlag von E. Behre.)

Die große politische Katastrophe, welche uns von dem Wohl- oder Uebel¬
wollen des Auslandes unabhängig machte, war auf geistigem Gebiet lange
vorbereitet. Durch die deutsche Literatur und Culturgeschichte der letzten zwan¬
zig Jahre zieht sich wie ein rother Faden das Bedürfniß, von der Autorität
der fremden Culturvölker, welche uns in Wissenschaft, Kunst und Leben lang
genug für Vorbilder gegolten, los zu kommen, oder genauer formulirt, das
Bedürfniß, die Ebenbürtigkeit, welche wir thatsächlich erlangt, äußerlich zum
Ausdruck zu bringen. Damit hängt zusammen, daß wir uns um die liierarische
Production des Auslandes ungleich weniger kümmern, als vor dreißig und
vor fünfundzwanzig Jahren, wo dieselben Romane und Parteischriften in
allen Studirstuben und Salons zwischen Seine und Newa aufgeschlagen
lagen. Höchstens, daß zu Gunsten hervorragender englischer Schöpfungen eine
Ausnahme gemacht wird -- die französische schöne Literatur steht auf der
Proscriptionsliste moderner deutscher Bildung uno mit ver politischen Publi-
cistik des zweiten Kaiserthums sieht es kaum besser aus.

Von neueren ausländischen Dichtern hat kaum einer in Deutschland so
viel Glück gemacht, wie der Russe Turgenjew. Das Interesse, das man ihm
entgegentrug, hatte doppelte Gründe; es galt einmal dem eigenthümlichen
Talent dieses feinsinnigen Künstlers, der in Wahrheit der Charakteristik,
Wärme und Leben der Schilderung, namentlich der Naturschilderung, nach
dem Zeugniß unserer strengsten Richter kaum übertroffen ist,-- und zweitens
der Neuheit der Stoffe, welche er behandelt. Die ersten deutschen Ueber¬
setzungen Turgenjewscher Schriften erschienen in der Zeit der Aufhebung der
Leibeigenschaft und des großen Umschwungs in der inneren russichen Politik.
Grade weil man von diesen Dingen wenig wußte, die Zustände und Ein¬
richtungen, welche umgestaltet werden sollten, kaum dem Namen nach kannte,
ergriff man begierig die Gelegenheit, sich mit ihnen auf zugleich unterrichtende


Grenzboten 111. 15"9. 1
Iwan Turgenjews „Väter und HHHne.

Ausgewählte Schriften Iwan Turgenjew's. Autorisirte Uebersetzung. Erster Band:
„Väter und Söhne." Mitau, Verlag von E. Behre.)

Die große politische Katastrophe, welche uns von dem Wohl- oder Uebel¬
wollen des Auslandes unabhängig machte, war auf geistigem Gebiet lange
vorbereitet. Durch die deutsche Literatur und Culturgeschichte der letzten zwan¬
zig Jahre zieht sich wie ein rother Faden das Bedürfniß, von der Autorität
der fremden Culturvölker, welche uns in Wissenschaft, Kunst und Leben lang
genug für Vorbilder gegolten, los zu kommen, oder genauer formulirt, das
Bedürfniß, die Ebenbürtigkeit, welche wir thatsächlich erlangt, äußerlich zum
Ausdruck zu bringen. Damit hängt zusammen, daß wir uns um die liierarische
Production des Auslandes ungleich weniger kümmern, als vor dreißig und
vor fünfundzwanzig Jahren, wo dieselben Romane und Parteischriften in
allen Studirstuben und Salons zwischen Seine und Newa aufgeschlagen
lagen. Höchstens, daß zu Gunsten hervorragender englischer Schöpfungen eine
Ausnahme gemacht wird — die französische schöne Literatur steht auf der
Proscriptionsliste moderner deutscher Bildung uno mit ver politischen Publi-
cistik des zweiten Kaiserthums sieht es kaum besser aus.

Von neueren ausländischen Dichtern hat kaum einer in Deutschland so
viel Glück gemacht, wie der Russe Turgenjew. Das Interesse, das man ihm
entgegentrug, hatte doppelte Gründe; es galt einmal dem eigenthümlichen
Talent dieses feinsinnigen Künstlers, der in Wahrheit der Charakteristik,
Wärme und Leben der Schilderung, namentlich der Naturschilderung, nach
dem Zeugniß unserer strengsten Richter kaum übertroffen ist,— und zweitens
der Neuheit der Stoffe, welche er behandelt. Die ersten deutschen Ueber¬
setzungen Turgenjewscher Schriften erschienen in der Zeit der Aufhebung der
Leibeigenschaft und des großen Umschwungs in der inneren russichen Politik.
Grade weil man von diesen Dingen wenig wußte, die Zustände und Ein¬
richtungen, welche umgestaltet werden sollten, kaum dem Namen nach kannte,
ergriff man begierig die Gelegenheit, sich mit ihnen auf zugleich unterrichtende


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[0009] Iwan Turgenjews „Väter und HHHne. Ausgewählte Schriften Iwan Turgenjew's. Autorisirte Uebersetzung. Erster Band: „Väter und Söhne." Mitau, Verlag von E. Behre.) Die große politische Katastrophe, welche uns von dem Wohl- oder Uebel¬ wollen des Auslandes unabhängig machte, war auf geistigem Gebiet lange vorbereitet. Durch die deutsche Literatur und Culturgeschichte der letzten zwan¬ zig Jahre zieht sich wie ein rother Faden das Bedürfniß, von der Autorität der fremden Culturvölker, welche uns in Wissenschaft, Kunst und Leben lang genug für Vorbilder gegolten, los zu kommen, oder genauer formulirt, das Bedürfniß, die Ebenbürtigkeit, welche wir thatsächlich erlangt, äußerlich zum Ausdruck zu bringen. Damit hängt zusammen, daß wir uns um die liierarische Production des Auslandes ungleich weniger kümmern, als vor dreißig und vor fünfundzwanzig Jahren, wo dieselben Romane und Parteischriften in allen Studirstuben und Salons zwischen Seine und Newa aufgeschlagen lagen. Höchstens, daß zu Gunsten hervorragender englischer Schöpfungen eine Ausnahme gemacht wird — die französische schöne Literatur steht auf der Proscriptionsliste moderner deutscher Bildung uno mit ver politischen Publi- cistik des zweiten Kaiserthums sieht es kaum besser aus. Von neueren ausländischen Dichtern hat kaum einer in Deutschland so viel Glück gemacht, wie der Russe Turgenjew. Das Interesse, das man ihm entgegentrug, hatte doppelte Gründe; es galt einmal dem eigenthümlichen Talent dieses feinsinnigen Künstlers, der in Wahrheit der Charakteristik, Wärme und Leben der Schilderung, namentlich der Naturschilderung, nach dem Zeugniß unserer strengsten Richter kaum übertroffen ist,— und zweitens der Neuheit der Stoffe, welche er behandelt. Die ersten deutschen Ueber¬ setzungen Turgenjewscher Schriften erschienen in der Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft und des großen Umschwungs in der inneren russichen Politik. Grade weil man von diesen Dingen wenig wußte, die Zustände und Ein¬ richtungen, welche umgestaltet werden sollten, kaum dem Namen nach kannte, ergriff man begierig die Gelegenheit, sich mit ihnen auf zugleich unterrichtende Grenzboten 111. 15»9. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/9>, abgerufen am 22.07.2024.