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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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schimmern sieht, kann freilich nicht staunen, wenn erhört, daß der norddeutsche
Bund nur zur Verarmung des Volkes und zur Verkümmerung seiner Frei¬
heit führe und in Baden "klägliche Reactionszustände und das System des
Stillstandes" herrschen. Als das einzige Mittel zur Rettung des erkrankten
Vaterlandes wurde die Einführung des allgemeinen Stimmrechts durch einen
außerordentlichen Landtag und Entlassung des Ministeriums Jolly verlangt,
welches das Vertrauen des badischen Volkes nicht besitze. Dieses Begehren
sollten in Adressen aus allen Theilen des Landes dem Großherzoge vorgetragen
werden und zur Belebung der Agitation in rascher Folge wurden überall
große Volksversammlungen berufen. Der Anfang wurde sofort am 9. Mai
in Bruchsal gemacht, dem Mittelpunkte der früher zu dem Bisthum Speier
gehörigen, sehr katholisch gesinnten Bezirke, woselbst an einem zahlreichen Zu¬
gang nicht zu zweifeln war. In der That zählte die Versammlung gegen
2000, nach clericalen Berichten sogar 6000 fast ausschließlich der Land¬
bevölkerung angehörige Theilnehmer. Als Vorsitzender eröffnete der greise
Freiherr von Andlaw, als eifriger Kämpe des Ultramontanismus schon seit
den vierziger Jahren bekannt, die Verhandlungen mit "Gelobet sei Jesus
Christ" und ging alsbald dazu über, durch eine geistreiche Erklärung der
Begriffe von Staat und Kirche den Gesichtskreis seiner Zuhörer zu erwei¬
tern. Der Kirche als der Vereinigung aller Rechtgläubigen mit einem sicht¬
baren Oberhaupte stehe der Staat gegenüber, der eben nichts Anderes sei,
als die Vereinigung der Kirchenfeinde gleichfalls unter einem sichtbaren
Oberhaupte -- dem Ministerpräsidenten. Trefflich waren hiermit die nun
folgenden Schimpfreden vorbereitet, welche das eigentliche Feld der Thätig¬
keit des Herrn Jacob Lindau bildeten, des.Zollparlamentsabgeordneten, der
durch die Tücken des Bureaus in der letzten Session niemals zum Worte
kam, früher Kaufmann in Heidelberg, jetzt badischer O'Connell. Wiewohl
derselbe darauf hinwies, daß es bei Fortdauer des Jollyschen Regiments
dahin kommen müsse, daß eines Tages der Katholik nur noch gegen Vor¬
zeigung eines Aeciszettels zur Messe dürfe, wurde der Eindruck von Lindau's
Rede doch erheblich in den Schatten gestellt durch den Erguß seines College"
vom Zollparlamente des Dr. Bissing, Docenten der Geschichte an der Uni¬
versität Heidelberg -- wenn mit diesem Titel der halbjährlich erneute, stets
vergebliche Versuch, ein Collegium zusammenzubringen, bezeichnet werden darf.
Er begab sich auf das Gebiet der hohen Politik und fand in den nationalen
Bestrebungen des Ministeriums die Quelle alles Uebels. Das Volk will
eine badische Politik, es will alles Andere, nur nicht preußisch werden, von
der Eider bis nach Mainz dringt ein Schmerzensschrei und nun geht die
Regierung gar damit um. die Einwohnergemeinde einzuführen! Das heißt
nichts Anderes, als alle Gemeinden zu Lumpengemeinden machen, denn aus


Grenzliotm II. 18ö!l. 54

schimmern sieht, kann freilich nicht staunen, wenn erhört, daß der norddeutsche
Bund nur zur Verarmung des Volkes und zur Verkümmerung seiner Frei¬
heit führe und in Baden „klägliche Reactionszustände und das System des
Stillstandes" herrschen. Als das einzige Mittel zur Rettung des erkrankten
Vaterlandes wurde die Einführung des allgemeinen Stimmrechts durch einen
außerordentlichen Landtag und Entlassung des Ministeriums Jolly verlangt,
welches das Vertrauen des badischen Volkes nicht besitze. Dieses Begehren
sollten in Adressen aus allen Theilen des Landes dem Großherzoge vorgetragen
werden und zur Belebung der Agitation in rascher Folge wurden überall
große Volksversammlungen berufen. Der Anfang wurde sofort am 9. Mai
in Bruchsal gemacht, dem Mittelpunkte der früher zu dem Bisthum Speier
gehörigen, sehr katholisch gesinnten Bezirke, woselbst an einem zahlreichen Zu¬
gang nicht zu zweifeln war. In der That zählte die Versammlung gegen
2000, nach clericalen Berichten sogar 6000 fast ausschließlich der Land¬
bevölkerung angehörige Theilnehmer. Als Vorsitzender eröffnete der greise
Freiherr von Andlaw, als eifriger Kämpe des Ultramontanismus schon seit
den vierziger Jahren bekannt, die Verhandlungen mit „Gelobet sei Jesus
Christ" und ging alsbald dazu über, durch eine geistreiche Erklärung der
Begriffe von Staat und Kirche den Gesichtskreis seiner Zuhörer zu erwei¬
tern. Der Kirche als der Vereinigung aller Rechtgläubigen mit einem sicht¬
baren Oberhaupte stehe der Staat gegenüber, der eben nichts Anderes sei,
als die Vereinigung der Kirchenfeinde gleichfalls unter einem sichtbaren
Oberhaupte — dem Ministerpräsidenten. Trefflich waren hiermit die nun
folgenden Schimpfreden vorbereitet, welche das eigentliche Feld der Thätig¬
keit des Herrn Jacob Lindau bildeten, des.Zollparlamentsabgeordneten, der
durch die Tücken des Bureaus in der letzten Session niemals zum Worte
kam, früher Kaufmann in Heidelberg, jetzt badischer O'Connell. Wiewohl
derselbe darauf hinwies, daß es bei Fortdauer des Jollyschen Regiments
dahin kommen müsse, daß eines Tages der Katholik nur noch gegen Vor¬
zeigung eines Aeciszettels zur Messe dürfe, wurde der Eindruck von Lindau's
Rede doch erheblich in den Schatten gestellt durch den Erguß seines College»
vom Zollparlamente des Dr. Bissing, Docenten der Geschichte an der Uni¬
versität Heidelberg — wenn mit diesem Titel der halbjährlich erneute, stets
vergebliche Versuch, ein Collegium zusammenzubringen, bezeichnet werden darf.
Er begab sich auf das Gebiet der hohen Politik und fand in den nationalen
Bestrebungen des Ministeriums die Quelle alles Uebels. Das Volk will
eine badische Politik, es will alles Andere, nur nicht preußisch werden, von
der Eider bis nach Mainz dringt ein Schmerzensschrei und nun geht die
Regierung gar damit um. die Einwohnergemeinde einzuführen! Das heißt
nichts Anderes, als alle Gemeinden zu Lumpengemeinden machen, denn aus


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[0433] schimmern sieht, kann freilich nicht staunen, wenn erhört, daß der norddeutsche Bund nur zur Verarmung des Volkes und zur Verkümmerung seiner Frei¬ heit führe und in Baden „klägliche Reactionszustände und das System des Stillstandes" herrschen. Als das einzige Mittel zur Rettung des erkrankten Vaterlandes wurde die Einführung des allgemeinen Stimmrechts durch einen außerordentlichen Landtag und Entlassung des Ministeriums Jolly verlangt, welches das Vertrauen des badischen Volkes nicht besitze. Dieses Begehren sollten in Adressen aus allen Theilen des Landes dem Großherzoge vorgetragen werden und zur Belebung der Agitation in rascher Folge wurden überall große Volksversammlungen berufen. Der Anfang wurde sofort am 9. Mai in Bruchsal gemacht, dem Mittelpunkte der früher zu dem Bisthum Speier gehörigen, sehr katholisch gesinnten Bezirke, woselbst an einem zahlreichen Zu¬ gang nicht zu zweifeln war. In der That zählte die Versammlung gegen 2000, nach clericalen Berichten sogar 6000 fast ausschließlich der Land¬ bevölkerung angehörige Theilnehmer. Als Vorsitzender eröffnete der greise Freiherr von Andlaw, als eifriger Kämpe des Ultramontanismus schon seit den vierziger Jahren bekannt, die Verhandlungen mit „Gelobet sei Jesus Christ" und ging alsbald dazu über, durch eine geistreiche Erklärung der Begriffe von Staat und Kirche den Gesichtskreis seiner Zuhörer zu erwei¬ tern. Der Kirche als der Vereinigung aller Rechtgläubigen mit einem sicht¬ baren Oberhaupte stehe der Staat gegenüber, der eben nichts Anderes sei, als die Vereinigung der Kirchenfeinde gleichfalls unter einem sichtbaren Oberhaupte — dem Ministerpräsidenten. Trefflich waren hiermit die nun folgenden Schimpfreden vorbereitet, welche das eigentliche Feld der Thätig¬ keit des Herrn Jacob Lindau bildeten, des.Zollparlamentsabgeordneten, der durch die Tücken des Bureaus in der letzten Session niemals zum Worte kam, früher Kaufmann in Heidelberg, jetzt badischer O'Connell. Wiewohl derselbe darauf hinwies, daß es bei Fortdauer des Jollyschen Regiments dahin kommen müsse, daß eines Tages der Katholik nur noch gegen Vor¬ zeigung eines Aeciszettels zur Messe dürfe, wurde der Eindruck von Lindau's Rede doch erheblich in den Schatten gestellt durch den Erguß seines College» vom Zollparlamente des Dr. Bissing, Docenten der Geschichte an der Uni¬ versität Heidelberg — wenn mit diesem Titel der halbjährlich erneute, stets vergebliche Versuch, ein Collegium zusammenzubringen, bezeichnet werden darf. Er begab sich auf das Gebiet der hohen Politik und fand in den nationalen Bestrebungen des Ministeriums die Quelle alles Uebels. Das Volk will eine badische Politik, es will alles Andere, nur nicht preußisch werden, von der Eider bis nach Mainz dringt ein Schmerzensschrei und nun geht die Regierung gar damit um. die Einwohnergemeinde einzuführen! Das heißt nichts Anderes, als alle Gemeinden zu Lumpengemeinden machen, denn aus Grenzliotm II. 18ö!l. 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/433>, abgerufen am 24.07.2024.