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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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und mehr die Augen darüber, wie häufig die strenge Rechtgläubigkeit als Deck'
mantel schamlosen Lebens diente. Ein bekannter ultra-orthodoxer Pastorin
Göttingen, der wegen ihm nachgewiesener widernatürlicher Wollust und Ver¬
führung ihm anvertrauter unerwachsener Mädchen landesflüchtig werden
Mußte, fand in dem Lager seiner Parteigenossen eifrige Vertheidiger als "trotz
Allem dem wahrer Christ", der nur der Versuchung des Teufels nicht habe
widerstehen können.

Vielfache Beschwerden der Gemeinden wider ihre Seelsorger blieben
ohne Ausnahme erfolglos; je schlechter ein Geistlicher bei seiner Gemeinde
stand, um so besser war er oben angeschrieben. Der neue Katechismus wurde
an vielen Orten in durchaus gesetzwidriger Weise von den Geistlichen fort¬
dauernd benutzt und die Beschwerden darüber halfen nichts.

Als im Anfang des Jahres 1867 die politische Aufregung sich etwas
gelegt hatte, wurde von allen Seiten der Ruf nach Zusammenberufung der
Synoden laut, die durch das Kirchengesitz von l864 eingeführt, noch immer
nur auf dem Papiere standen. Das Landesconsistonum nahm denn auch
nicht länger Anstand, dem allgemeinen Verlangen nachzugeben, zumal es zu
gut vorgearbeitet hatte, um von den Synoden irgend welche ernste Gefahr
für das herrschende System zu fürchten. Es wurden die nöthigen Vorberei¬
tungen ohne weiteres Zögern getroffen, und noch in demselben Jahre traten
die ersten Bezirkesynoden zusammen.

Jetzt zeigte sich, welch' großen Fehler die liberale Partei bei der Be¬
rathung des Synodalgesetzes begangen hatte. , In dem von der Regierung
vorgelegten Entwurf waren nämlich drei Abstufungen, Bezirkssynoden für den
Jnsvections- oder Superintendenturbezirk, Provinzialsynoden und eine all¬
gemeine Landessynode vorgesehen. Seitens der Vorsynode und der allge¬
meinen Stände hatte man indeß mit Recht diesen dreistufigen Organismus
für zu schwerfällig und zwei Alten von Synoden für ausreichend gehalten.
Statt aber die Bezirkssynoden zu beseitigen, hatte man in der Hoffnung,
gerade durch diese kleineren Versammlungen die verschiedenartigsten localen
Fragen angeregt und dadurch frischeres Leben in den Gemeinden selbst ge¬
weckt zu sehen, diese bestehen lassen und die Provinzialsynoden aus dem Ge¬
setze gestrichen. -- Kaum aber traten die ersten Bezirkssynoden zusammen, so
erkannte man, wie trügerisch die auf ihre Wirksamkeit gesetzte Hoffnung war.
Dieselben bestehen nach dem Gesetze aus den Superintendenten als Vorsitzen¬
den, ferner sämmtlichen Geistlichen des Bezirks, eben so vielen von den Kirchen¬
vorständen aus ihrer Mitte zu wählenden weltlichen Mitgliedern, zwei
Volksschullehrern und zweien von der Kirchenregierung zu ernennenden Mit¬
gliedern. -- Das geistliche Element mußte also stets das Uebergewicht haben;
bedenkt man aber, wie, unseren obigen Ausführungen nach, die Kirchen-


und mehr die Augen darüber, wie häufig die strenge Rechtgläubigkeit als Deck'
mantel schamlosen Lebens diente. Ein bekannter ultra-orthodoxer Pastorin
Göttingen, der wegen ihm nachgewiesener widernatürlicher Wollust und Ver¬
führung ihm anvertrauter unerwachsener Mädchen landesflüchtig werden
Mußte, fand in dem Lager seiner Parteigenossen eifrige Vertheidiger als „trotz
Allem dem wahrer Christ", der nur der Versuchung des Teufels nicht habe
widerstehen können.

Vielfache Beschwerden der Gemeinden wider ihre Seelsorger blieben
ohne Ausnahme erfolglos; je schlechter ein Geistlicher bei seiner Gemeinde
stand, um so besser war er oben angeschrieben. Der neue Katechismus wurde
an vielen Orten in durchaus gesetzwidriger Weise von den Geistlichen fort¬
dauernd benutzt und die Beschwerden darüber halfen nichts.

Als im Anfang des Jahres 1867 die politische Aufregung sich etwas
gelegt hatte, wurde von allen Seiten der Ruf nach Zusammenberufung der
Synoden laut, die durch das Kirchengesitz von l864 eingeführt, noch immer
nur auf dem Papiere standen. Das Landesconsistonum nahm denn auch
nicht länger Anstand, dem allgemeinen Verlangen nachzugeben, zumal es zu
gut vorgearbeitet hatte, um von den Synoden irgend welche ernste Gefahr
für das herrschende System zu fürchten. Es wurden die nöthigen Vorberei¬
tungen ohne weiteres Zögern getroffen, und noch in demselben Jahre traten
die ersten Bezirkesynoden zusammen.

Jetzt zeigte sich, welch' großen Fehler die liberale Partei bei der Be¬
rathung des Synodalgesetzes begangen hatte. , In dem von der Regierung
vorgelegten Entwurf waren nämlich drei Abstufungen, Bezirkssynoden für den
Jnsvections- oder Superintendenturbezirk, Provinzialsynoden und eine all¬
gemeine Landessynode vorgesehen. Seitens der Vorsynode und der allge¬
meinen Stände hatte man indeß mit Recht diesen dreistufigen Organismus
für zu schwerfällig und zwei Alten von Synoden für ausreichend gehalten.
Statt aber die Bezirkssynoden zu beseitigen, hatte man in der Hoffnung,
gerade durch diese kleineren Versammlungen die verschiedenartigsten localen
Fragen angeregt und dadurch frischeres Leben in den Gemeinden selbst ge¬
weckt zu sehen, diese bestehen lassen und die Provinzialsynoden aus dem Ge¬
setze gestrichen. — Kaum aber traten die ersten Bezirkssynoden zusammen, so
erkannte man, wie trügerisch die auf ihre Wirksamkeit gesetzte Hoffnung war.
Dieselben bestehen nach dem Gesetze aus den Superintendenten als Vorsitzen¬
den, ferner sämmtlichen Geistlichen des Bezirks, eben so vielen von den Kirchen¬
vorständen aus ihrer Mitte zu wählenden weltlichen Mitgliedern, zwei
Volksschullehrern und zweien von der Kirchenregierung zu ernennenden Mit¬
gliedern. — Das geistliche Element mußte also stets das Uebergewicht haben;
bedenkt man aber, wie, unseren obigen Ausführungen nach, die Kirchen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/423>, abgerufen am 24.07.2024.