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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Einzelne völlig wehrlos war, scheuten sich bald die besten Elemente, den
Kampf mit der Geistlichkeit aufzunehmen und die Kirchenvorstände wurden
in den meisten Orten mehr oder minder gefügige Werkzeuge orthodoxer
Geistlichen.

Besonders traurige Folgen hatte die starre mehr auf den Buchstaben als
auf den Geist sehende Ausführung des Gesetzes in Ostfriesland. Hier lebten
von Alters her Lutheraner und Reformirte in bester Eintracht und in einer Art
factischer Union; beide Confessionen räumten sich gegenseitig volles kirchliches
Srimmrecht ein, während die Angehörigen beider auch die Ortskirchenlasten
gemeinsam trugen. Die hannoversche Regierung erklärte auf Grund der neuen,
ihrem Wortlaut nach allerdings nur für die lutherische Kirche berechneten
Kirchenvorstandsordnung, daß hinfort kein Resormirter mehr actives oder
passives Wahlrecht bei den Kirchenvorstandswahlen in den lutherischen
Gemeinden in Anspruch nehmen könne. Vergebens protestirten einstimmig
die Gemeinden, vergebens stellte das Auricher Consistorium die schweren Be¬
denken vor, welche ein solches Eingreifen in seit Jahrhunderten zur allge¬
meinen Befriedigung bestehende Zustände erwecken müsse, vergeblich nahm
sich die Provinziallandschaft der Sache an -- der starre Sinn der herrschen¬
den Partei blieb für alle- Vorstellungen unzugänglich.

Bald zeigten sich die Cons>>auenzen. In vielen gemischten Gemeinden
wurde der bis dahin völlig schlafende confessionelle Gegensatz gewendet; die
Reformirten, welchen das Wahlrecht zum Kirchenvorstände entzogen war,
fingen an, auch die Zahlung der Beiträge zur lutherischen Ortskirche und
Schule zu weigern. Streitigkeiten, Processe, gegenseitige Erbitterung waren
die Folge. In anderen Gemeinden weigerten sich die Lutheraner zu wählen,
so lange nicht die reformirten Gemeindegenossen zur Betheiligung an der
Wahl zugelassen seien, namentlich geschah dies in den Kirchspielen, die ob¬
wohl der lutherischen Confession angehörig, doch zum überwiegenden Theil
von Reformirten bewohnt wurden. Es gab lutherische Gemeinden, in denen
Dreiviertel der Gemeindeglieder sich zur reformirten Confession bekannten.
Diese wurden nun plötzlich vom Wahlrecht ausgeschlossen, und mehrfach fand
sich unter der zurückbleibenden Zahl Lutheranern niemand, der zum Kirchen-
vorsteheramt geeignet war. Die Wahl mußte daher unterbleiben, und selbst
die Geistlichen beschwerten sich dann über die unkluge Maßregel, welche ihnen
die intelligentesten und am meisten kirchlich gesinnten Gemeindeglieder von
den kirchlichen Ehrenämtern ausichloß.-- Das neue Gesetz bezog sich nur auf
die Kirchenvorstands- und Synodalwahlen, berührte aber die wichtigen Pre¬
digerwahlen mit keiner Silbe. In Ostfriesland, wo seit Alters her freies
Gemeindewahlrecht unter gegenseitiger Gleichberechtigung der evangelischen
Confessionen geherrscht hatte, blieb in dieser Beziehung natürlich Alles beim


Einzelne völlig wehrlos war, scheuten sich bald die besten Elemente, den
Kampf mit der Geistlichkeit aufzunehmen und die Kirchenvorstände wurden
in den meisten Orten mehr oder minder gefügige Werkzeuge orthodoxer
Geistlichen.

Besonders traurige Folgen hatte die starre mehr auf den Buchstaben als
auf den Geist sehende Ausführung des Gesetzes in Ostfriesland. Hier lebten
von Alters her Lutheraner und Reformirte in bester Eintracht und in einer Art
factischer Union; beide Confessionen räumten sich gegenseitig volles kirchliches
Srimmrecht ein, während die Angehörigen beider auch die Ortskirchenlasten
gemeinsam trugen. Die hannoversche Regierung erklärte auf Grund der neuen,
ihrem Wortlaut nach allerdings nur für die lutherische Kirche berechneten
Kirchenvorstandsordnung, daß hinfort kein Resormirter mehr actives oder
passives Wahlrecht bei den Kirchenvorstandswahlen in den lutherischen
Gemeinden in Anspruch nehmen könne. Vergebens protestirten einstimmig
die Gemeinden, vergebens stellte das Auricher Consistorium die schweren Be¬
denken vor, welche ein solches Eingreifen in seit Jahrhunderten zur allge¬
meinen Befriedigung bestehende Zustände erwecken müsse, vergeblich nahm
sich die Provinziallandschaft der Sache an — der starre Sinn der herrschen¬
den Partei blieb für alle- Vorstellungen unzugänglich.

Bald zeigten sich die Cons>>auenzen. In vielen gemischten Gemeinden
wurde der bis dahin völlig schlafende confessionelle Gegensatz gewendet; die
Reformirten, welchen das Wahlrecht zum Kirchenvorstände entzogen war,
fingen an, auch die Zahlung der Beiträge zur lutherischen Ortskirche und
Schule zu weigern. Streitigkeiten, Processe, gegenseitige Erbitterung waren
die Folge. In anderen Gemeinden weigerten sich die Lutheraner zu wählen,
so lange nicht die reformirten Gemeindegenossen zur Betheiligung an der
Wahl zugelassen seien, namentlich geschah dies in den Kirchspielen, die ob¬
wohl der lutherischen Confession angehörig, doch zum überwiegenden Theil
von Reformirten bewohnt wurden. Es gab lutherische Gemeinden, in denen
Dreiviertel der Gemeindeglieder sich zur reformirten Confession bekannten.
Diese wurden nun plötzlich vom Wahlrecht ausgeschlossen, und mehrfach fand
sich unter der zurückbleibenden Zahl Lutheranern niemand, der zum Kirchen-
vorsteheramt geeignet war. Die Wahl mußte daher unterbleiben, und selbst
die Geistlichen beschwerten sich dann über die unkluge Maßregel, welche ihnen
die intelligentesten und am meisten kirchlich gesinnten Gemeindeglieder von
den kirchlichen Ehrenämtern ausichloß.— Das neue Gesetz bezog sich nur auf
die Kirchenvorstands- und Synodalwahlen, berührte aber die wichtigen Pre¬
digerwahlen mit keiner Silbe. In Ostfriesland, wo seit Alters her freies
Gemeindewahlrecht unter gegenseitiger Gleichberechtigung der evangelischen
Confessionen geherrscht hatte, blieb in dieser Beziehung natürlich Alles beim


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[0418] Einzelne völlig wehrlos war, scheuten sich bald die besten Elemente, den Kampf mit der Geistlichkeit aufzunehmen und die Kirchenvorstände wurden in den meisten Orten mehr oder minder gefügige Werkzeuge orthodoxer Geistlichen. Besonders traurige Folgen hatte die starre mehr auf den Buchstaben als auf den Geist sehende Ausführung des Gesetzes in Ostfriesland. Hier lebten von Alters her Lutheraner und Reformirte in bester Eintracht und in einer Art factischer Union; beide Confessionen räumten sich gegenseitig volles kirchliches Srimmrecht ein, während die Angehörigen beider auch die Ortskirchenlasten gemeinsam trugen. Die hannoversche Regierung erklärte auf Grund der neuen, ihrem Wortlaut nach allerdings nur für die lutherische Kirche berechneten Kirchenvorstandsordnung, daß hinfort kein Resormirter mehr actives oder passives Wahlrecht bei den Kirchenvorstandswahlen in den lutherischen Gemeinden in Anspruch nehmen könne. Vergebens protestirten einstimmig die Gemeinden, vergebens stellte das Auricher Consistorium die schweren Be¬ denken vor, welche ein solches Eingreifen in seit Jahrhunderten zur allge¬ meinen Befriedigung bestehende Zustände erwecken müsse, vergeblich nahm sich die Provinziallandschaft der Sache an — der starre Sinn der herrschen¬ den Partei blieb für alle- Vorstellungen unzugänglich. Bald zeigten sich die Cons>>auenzen. In vielen gemischten Gemeinden wurde der bis dahin völlig schlafende confessionelle Gegensatz gewendet; die Reformirten, welchen das Wahlrecht zum Kirchenvorstände entzogen war, fingen an, auch die Zahlung der Beiträge zur lutherischen Ortskirche und Schule zu weigern. Streitigkeiten, Processe, gegenseitige Erbitterung waren die Folge. In anderen Gemeinden weigerten sich die Lutheraner zu wählen, so lange nicht die reformirten Gemeindegenossen zur Betheiligung an der Wahl zugelassen seien, namentlich geschah dies in den Kirchspielen, die ob¬ wohl der lutherischen Confession angehörig, doch zum überwiegenden Theil von Reformirten bewohnt wurden. Es gab lutherische Gemeinden, in denen Dreiviertel der Gemeindeglieder sich zur reformirten Confession bekannten. Diese wurden nun plötzlich vom Wahlrecht ausgeschlossen, und mehrfach fand sich unter der zurückbleibenden Zahl Lutheranern niemand, der zum Kirchen- vorsteheramt geeignet war. Die Wahl mußte daher unterbleiben, und selbst die Geistlichen beschwerten sich dann über die unkluge Maßregel, welche ihnen die intelligentesten und am meisten kirchlich gesinnten Gemeindeglieder von den kirchlichen Ehrenämtern ausichloß.— Das neue Gesetz bezog sich nur auf die Kirchenvorstands- und Synodalwahlen, berührte aber die wichtigen Pre¬ digerwahlen mit keiner Silbe. In Ostfriesland, wo seit Alters her freies Gemeindewahlrecht unter gegenseitiger Gleichberechtigung der evangelischen Confessionen geherrscht hatte, blieb in dieser Beziehung natürlich Alles beim

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/418>, abgerufen am 04.07.2024.